DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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4. Sokrates und Platon, Vorläufer der Christlichen Lehre und des Spiritismus

Aus der Tatsache heraus, dass Jesus die Sekte der Essener gekannt haben musste, wäre es falsch zu folgern, dass Er aus dieser Sekte Seine Lehre geschöpft hätte, und dass Er – falls Er in einem anderen Milieu gelebt hätte – sich zu anderen Grundsätzen bekannt hätte. Die großen Ideen brechen niemals plötzlich hervor. Diejenigen, die die Wahrheit als Basis haben, haben immer Vorläufer, die ihnen teilweise den Weg bereiten. Später, wenn die Zeit gekommen ist, schickt Gott einen Menschen mit der Mission, diese zerstreuten Grundlagen zusammenzufassen, zu ordnen und zu ergänzen, um daraus ein Ganzes zu bilden. Auf diese Weise findet die Idee, die nicht plötzlich gekommen ist, bei ihrem Erscheinen Menschen, die vorbereitet sind, sie anzunehmen. So geschah es mit den christlichen Ideen, die viele Jahrhunderte vor Jesu und den Essenern vorausgeahnt wurden, und deren hauptsächliche Vorläufer Sokrates und Platon waren.


Sokrates, ebenso wie Christus, schrieb nichts auf oder hinterließ zumindest nichts Schriftliches; wie Christus starb auch er den Tod der Verbrecher, Opfer des Fanatismus, weil er den traditionellen Glauben angegriffen und die wahre Tugend über die Heuchelei und die Täuschung durch Festhalten am Formalismus gestellt hatte, in einem Wort, weil er die religiösen Vorurteile bekämpfte. So wie Jesus von den Pharisäern beschuldigt wurde, das Volk mit seinen Lehren zu verderben, ist er ebenfalls von den Pharisäern seiner Zeit angeklagt worden – da es sie in allen Epochen gegeben hat – die Jugend durch die Verkündungen des Dogmas der Einheit Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und des zukünftigen Lebens zu verderben. Und ebenso wie wir die Lehre Jesu nur aus den Schriften seiner Jünger kennen, so kennen wir die von Sokrates nur durch die Schriften seines Schülers Platon. Wir halten es für nützlich, hier die wichtigsten Punkte zusammenzufassen, um die Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Christentums zu veranschaulichen.


Denjenigen, die diese Parallele als eine Entweihung ansehen und behaupten würden, dass es keine Ähnlichkeiten zwischen der Lehre eines Heiden und der eines Christen geben kann, antworten wir: dass die Lehre Sokrates nicht heidnisch war, denn sie hatte das Ziel, das Heidentum zu bekämpfen; dass die Lehre Jesu, die vollständiger und reiner als die des Sokrates ist, beim Vergleich nichts zu verlieren hat; dass die Bedeutung der göttlichen Mission Jesu damit nicht vermindert wird; und dass es sich, im übrigen, um historische Fakten handelt, die nicht vertuscht werden können. Der Mensch ist an einem Punkt angelangt, an dem das Licht von sich aus unter dem Scheffel hervorkommt; er ist reif, ihm gegenüberzutreten; schade für jene, die sich aus Angst nicht getrauen, ihre Augen zu öffnen. Es ist die Zeit gekommen, die Dinge auf eine erhabene und umfassende Art und Weise zu betrachten und nicht mehr aus dem kleinlichen und beschränkten Gesichtspunkt der Interessen von Sekten und Kasten.


Diese Zitate beweisen außerdem, dass, wenn Sokrates und Platon das christliche Denken vorausgeahnt haben, man auch gleichzeitig in ihrer Lehre die grundlegenden Grundsätze des Spiritismus findet.