DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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KAPITEL IV
Keiner kann das Reich Gottes sehen, wenn er nicht wiedergeboren wird

• Auferstehung und Reinkarnation • Die Reinkarnation stärkt die Familienbande, während die einmalige Existenz sie bricht. • Unterweisungen der geistigen Welt: Grenzen der Inkarnation; Notwendigkeit der Inkarnation.

1. Als Jesus in die Gegend von Cäsaräa Philippi gekommen war, fragte Er seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn? Für wen halten mich die Leute? – Da antworteten sie: Die einen halten Dich für Johannes den Täufer, andere für Elia, wieder andere für Jeremia oder sonst einen von den Propheten. – Er sagte weiter: Ihr aber, für wen haltet ihr mich denn? – Da gab Simon Petrus Ihm die Antwort: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. – Jesus sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Sohn des Jona, denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater in den Himmeln. (Matthäus, XVI, 13-17; Markus, Kap. VIII; 27-30)

2. Inzwischen hatte auch der Fürst Herodes von den Taten Jesu gehört und wurde dadurch sehr beunruhigt, denn manche behaupteten, Johannes der Täufer sei von den Toten auferweckt worden; andere dagegen sagten, Elia sei erschienen; andere wiederum meinten, einer von den alten Propheten sei auferstanden. – Da sagte Herodes: Johannes habe ich enthaupten lassen, wer ist aber dieser, über den ich solche Dinge höre? Und er wünschte Ihn zu sehen. (Lukas, Kap. IX, 7, 8, 9; Markus, Kap. VI, 14-16)

3. (Nach der Verklärung) Da fragten Ihn seine Jünger: Warum sagen die Schriftgelehrten, dass zuvor Elia zurückkommen müsse? – Jesus gab ihnen zur Antwort: Elia soll zwar zurückkommen und alles wieder herstellen. Ich aber sage euch, dass Elia bereits gekommen ist und sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben mit ihm getan, was sie wollten. So werden sie auch mit dem Menschensohn umgehen. – Da verstanden seine Jünger, dass Er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach. (Matthäus, Kap. XVII, 10-13; Markus, Kap. IX, 11-13)

Auferstehung und Reinkarnation

4. Die Reinkarnation gehörte unter dem Namen „Auferstehung“ zu den Dogmen der Juden. Nur die Sadduzäer, für welche der Tod das Ende bedeutete, glaubten nicht daran. Die Vorstellungen der Juden über diesen und viele andere Punkte waren nicht klar definiert, denn sie hatten ganz verschwommene und unvollständige Kenntnisse in Bezug auf die Seele und ihrer Verbindung mit dem Körper. Sie glaubten daran, dass ein Mensch, der gelebt hat, wiederkehren konnte, ohne sich genau bewusst zu sein, wie dies geschehen würde. Sie bezeichneten als Auferstehung das, was der Spiritismus verständlicherweise die „Reinkarnation“ nennt. In der Tat setzt die Auferstehung voraus, dass das Leben in den bereits verstorbenen Körper zurückkommt, was jedoch die Wissenschaft als materiell unmöglich nachweist, besonders wenn sich die Körperbestandteile seit langem aufgelöst und aufgezehrt haben. Die Reinkarnation ist die Rückkehr der Seele oder des Geistes in das physische Leben, aber in einen neuen, speziell für ihn geformten Körper, der mit dem alten nichts gemein hat. Das Wort Auferstehung konnte somit bei Lazarus Anwendung finden, aber nicht bei Elia und anderen Propheten. Wenn, ihrem Glauben nach, Johannes der Täufer Elia war, konnte der Körper des Johannes nicht der von Elia sei, denn Johannes hatte man schon als kleines Kind gesehen und die Eltern waren bekannt. Johannes konnte also nur die Wiederverkörperung von Elia sein, aber nicht seine Auferstehung.

5. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern namens Nikodemus, ein Ratsherr der Juden, der bei Nacht zu Jesus kam und zu Ihm sagte: „Meister, wir wissen, dass Du von Gott gesandt wurdest, um uns wie ein Gelehrter zu unterrichten, denn niemand könnte diese Wunder vollziehen wie Du, es sei denn, Gott ist mit ihm.“

Jesus antwortete ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: keiner kann das Reich Gottes sehen, wenn er nicht wiedergeboren wird.“

Nikodemus sagte Ihm: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, wiedergeboren werden? Kann er etwa zum zweiten Mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden?“

Jesus entgegnete: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und aus dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte, dass ihr wiedergeboren werden müsst. Der Geist weht, wo er will, und du hörst seine Stimme, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so ist es auch mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“

Nikodemus antwortete Ihm: „Wie kann dies geschehen? – Jesus sagte zu ihm: Was! Du bist ein Lehrer Israels und kennst diese Dinge nicht? – Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wir reden nur das, was wir wissen, und bezeugen nur das, was wir gesehen haben. Unterdessen, nimmst du unser Zeugnis nicht an. Aber wenn du mir nicht glaubst, wenn ich zu dir über die irdischen Dinge rede, wie wirst du mir dann glauben schenken, wenn ich dir über die himmlischen Dinge berichte?“ (Johannes, Kap. III, 1-12)

6. Die Vorstellung, dass Johannes der Täufer einst Elia war und dass die Propheten in ein Leben auf Erden zurückkehren konnten, findet man an vielen Stellen der Evangelien, insbesondere an den oben erwähnten (1., 2. und 3.). Wenn dieser Glaube falsch gewesen wäre, hätte Jesus ihn bekämpft, wie Er vieles andere bekämpft hat. Im Gegenteil bestätigt Er mit seiner ganzen Autorität diesen Glauben und nimmt ihn als Grundsatz und Voraussetzung, wenn Er sagt: „Keiner kann das Reich Gottes sehen, wenn er nicht wiedergeboren wird“. Er beharrt darauf und fügt hinzu: „Wundere dich nicht über das, was ich sage, dass ihr wiedergeboren werden müsst.“

7. Diese Worte: „Wenn ein Mensch nicht aus dem Wasser und aus dem Geist wiedergeboren wird“ wurden im Sinne der Erneuerung durch das Wasser der Taufe interpretiert. Aber, der ursprüngliche Text lautete einfach: „nicht aus dem Wasser und aus dem Geist wiedergeboren“, während in einigen Übersetzungen die Worte „aus dem Geist“ ersetzt wurden durch die Worte „aus dem heiligen Geist“, was nicht demselben Gedanken entspricht. Dieser wesentliche Punkt stammt aus den ersten Erläuterungen, die über das Evangelium gemacht wurden, was man eines Tages gegen jeden Irrtum erhaben feststellen wird. *

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* Bemerkung: Die Übersetzung von Osterwald stimmt mit dem Ursprungstext überein; dort steht: nicht aus dem Wasser und aus dem Geist wiedergeboren; die von Sacy sagt: vom Heiligen Geist; jene von Lamennais: der Geist-Heiliger.



8. Um den wahren Sinn dieser Äußerungen verstehen zu können, muss man auch die Bedeutung des Wortes „Wasser“ beachten, das nicht in seiner Grundbedeutung benutzt wurde.


Die Kenntnisse der Menschen jener Zeit über die Wissenschaft der Physik waren sehr unvollkommen. Sie glaubten, dass die Erde aus dem Wasser entstanden sei und hielten das Wasser deswegen für ein absolut schöpferisches Element. In der Genesis steht es so geschrieben: “Der Geist Gottes wurde über die Wasser gebracht; schwebte über den Wassern. Möge das Firmament mitten im Wasser entstehen; mögen die Gewässer, die sich unter dem Himmel befinden, sich an einem einzigen Ort sammeln und das trockene Element erscheinen lassen; mögen die Gewässer sowohl lebende Tiere, die im Wasser schwimmen, als auch Vögel, die auf der Erde und unter dem Firmament fliegen, entstehen lassen.“

Nach diesem Glauben war das Wasser zum Symbol der materiellen Natur wie auch der Geist zum Symbol der intelligenten Natur geworden. Diese Worte: „Wenn der Mensch nicht aus dem Wasser und aus dem Geist oder im Wasser und im Geist wiedergeboren wird“, bedeuten also: „Wenn der Mensch nicht mit seinem Körper und seiner Seele wiedergeboren wird“. In diesem Sinne hat man am Anfang diese Worte verstanden.

Diese Interpretation ist ohnehin durch andere Worte gerechtfertigt: „Was aus dem Fleisch geboren wird, ist Fleisch und was aus dem Geist geboren wird, ist Geist“. Jesus macht hier einen positiven Unterschied zwischen Geist und Körper. „Was aus dem Fleisch geboren wird, ist Fleisch“ zeigt ganz deutlich, dass nur der Körper aus dem Körper stammt, und dass der Geist von diesem unabhängig ist.

9. „Der Geist weht, wo er will und ihr hört seine Stimme, aber ihr wisst nicht, woher er kommt und wohin er geht“: kann verstanden werden als der Geist Gottes, welcher das Leben schenkt wem ER will, oder als die Seele des Menschen. In diesem letzten Sinne: „Ihr wisst nicht, woher er kommt und wohin er geht“ besagt, dass niemand weiß, weder was der Geist war noch was der Geist sein wird. Wenn der Geist oder die Seele gleichzeitig mit dem Körper geschaffen wäre, wüsste man woher er stammt, da man seinen Ursprung kennen würde. Wie dem auch sein mag, diese Stelle ist die Anerkennung des Prinzips der Vorexistenz der Seele und folglich das Prinzip der Pluralität der Existenzen.

10. Aber seit der Zeit von Johannes dem Täufer bis heute, wird das Himmelreich mit Gewalt beansprucht und gewaltsame Menschen versuchen es an sich zu reißen. Denn hin bis zu Johannes haben alle Propheten sowie das Gesetz Prophezeiungen gemacht und wenn ihr verstehen wollt, was ich euch sage: „Er ist selber der Elia, der kommen soll. Derjenige, der Ohren hat zum Hören, der höre.“ (Matthäus, Kap. XI, 12-15)

11. Wenn das Prinzip der Wiedergeburt, wie es bei Johannes steht, streng genommen in einem puren mystischen Sinne interpretiert werden könnte, ist bei Matthäus, dessen Text kein Missverständnis zulässt, diese Art der Interpretation nicht möglich. „Er ist selber der Elia, der kommen soll“; hier gibt es weder Gestalt noch Allegorie: es ist eine positive Feststellung. „Seit der Zeit von Johannes dem Täufer bis jetzt, wird das Himmelreich mit Gewalt beansprucht.“ Was bedeuten diese Worte, da Johannes der Täufer zu dieser Zeit noch lebte? Jesus erklärt dies, indem Er sagt: „Wenn ihr es verstehen wollt, was ich euch sage: er ist selber der Elia, der kommen soll“. Also, da Johannes kein anderer als Elia war, weist Jesus auf die Zeiten hin, in denen Johannes unter dem Namen Elia lebte. „Bis jetzt wird das Himmelreich mit Gewalt beansprucht“ ist ein weiterer Hinweis auf die Gewaltanwendung des mosaischen Gesetzes, welches die Vernichtung der Ungläubigen anordnete, um das versprochene Land, das Paradies der Hebräer, zu gewinnen, während nach dem neuen Gesetz der Himmel durch Nächstenliebe und Sanftmut gewonnen werden kann.

Und Er fügte hinzu: „Derjenige, der Ohren hat zum Hören, der höre“. Diese Worte, die Jesus so oft wiederholte, sagen deutlich, dass nicht alle in der Lage waren, gewisse Wahrheiten zu verstehen.

12. Diejenigen von eurem Volk, die man getötet hat, werden wieder leben; diejenigen, die um mich herum gestorben sind, werden auferstehen. Erwacht aus eurem Schlaf und lobpreist Gott, ihr Bewohner des Staubs; denn der Tau, welcher über euch fällt ist ein Tau des Lichts, und die Erde gibt die Toten heraus. (Jesaja, Kap. XXVI, 19)

13. Auch diese Stelle von Jesaja ist sehr deutlich: „Diejenigen von eurem Volk, die man getötet hat, werden wieder leben“. Wenn der Prophet über das geistige Leben Bescheid gewusst hätte, wenn er vorgehabt hätte es zu sagen, dass diejenigen, die hingerichtet wurden, nicht im Geist tot waren, hätte er gesagt “sie leben noch“ und nicht „sie werden wieder leben“. Im spirituellen Sinne sind diese Worte widersinnig, denn sie würden eine Unterbrechung des Lebens der Seele bedeuten. Im Sinne der moralischen Erneuerung sind sie die Verneinung der ewigen Leiden, denn diese Worte beweisen im Prinzip, dass all diejenigen, die tot sind, wieder lebendig werden.

14. Aber, wenn der Mensch, der bereits einmal gestorben und sein Körper von seinem Geist getrennt und aufgezehrt ist, was ist aus ihm geworden? Kann der Mensch, der bereits einmal gestorben ist, wiedergeboren werden? In diesem Kampf, in dem ich mich jeden Tag meines Lebens befinde, erwarte ich, dass meine Veränderung eintritt. (Hiob, Kap. XIV, 10,

14. Übersetzung von „Le Maistre de Sacy“) Wenn der Mensch stirbt, verliert er seine ganze Kraft, er ist tot. Wo ist er danach? Wenn der Mensch stirbt, wird er wieder leben? Werde ich jeden Tag meines Kampfes warten bis zu dem Tag, an dem irgendeine Veränderung eintritt? (Protestantische Übersetzung von Osterwald)

Wenn der Mensch gestorben ist, lebt er weiter; wenn die Tage meiner irdischen Existenz zu Ende sein werden, werde ich warten, denn zu ihr werde ich zurückkehren. (Version der griechischen Kirche)

15. In diesen drei Versionen ist das Prinzip der Pluralität der Existenzen deutlich ausgedrückt. Man kann nicht annehmen, dass Hiob über die Erneuerung durch das Taufwasser hätte sprechen wollen, die er gewiss nicht kannte. „Konnte der Mensch, der bereits einmal gestorben war, wiedergeboren werden?“ Der Gedanke zu sterben und wiedergeboren zu werden, bedeutet: sterben und mehrmals wiedergeboren zu werden. Die Version der griechischen Kirche ist noch deutlicher, falls das überhaupt möglich ist: „Wenn die Tage meiner irdischen Existenz zu Ende sein werden, werde ich warten, denn zu ihr werde ich zurückkehren“, d.h.: „Ich werde zur irdischen Existenz zurückkehren“. Das ist so klar, als ob jemand sagt: „Ich gehe aus meinem Haus, aber ich werde dorthin zurückkehren.“

„In diesem Kampf, in dem ich mich jeden Tag meines Lebens befinde, erwarte ich, dass meine Veränderung kommt.“ Hiob meint natürlich damit den Kampf, den er gegen das Elend des Lebens führt. Er wartet auf seine Veränderung, d.h. er findet sich damit ab. In der griechischen Version: „Ich werde warten“, scheint eher von einer neuen Existenz die Rede zu sein. Es scheint, dass Hiob mit seinen Worten: „Wenn die Tage meiner irdischen Existenz zu Ende sein werden, werde ich warten, denn zu ihr werde ich zurückkehren“, meint, dass er nach seinem Tod irgendwo eine Zeit zwischen der eben abgeschlossenen und einer neuen Existenz auf dieser Erde verbringen wird und sagt, dass er dort auf seine Rückkehr warten wird.

16. Es ist somit nicht daran zu zweifeln, dass unter dem Namen „Auferstehung“ das Prinzip der Wiedergeburt einer der Hauptglaubensgrundsätze der Juden war, und das haben Jesus und die Propheten in einer förmlichen Art und Weise bestätigt; daraus ist zu folgern, dass die Reinkarnation zu verneinen gleichbedeutend ist mit der Ablehnung der Worte Christi. Seine Worte werden eines Tages Autorität in diesem, wie auch in vielen anderen Punkten haben, wenn ohne Vorurteile über sie nachgedacht wird.

17. Aber zu dieser Autorität, was den religiösen Gesichtspunkt angeht, fügt man die Beweise aus der philosophischen Sicht hinzu, die sich aus der Beobachtung der Tatsachen ergeben. Wenn es darum geht, von den Wirkungen auf die Ursachen zurückzugehen, erscheint die Reinkarnation als eine absolute Notwendigkeit und eine der Menschheit innewohnenden Gegebenheit; kurz gesagt: als ein Naturgesetz. Sie offenbart sich durch ihre Ergebnisse in einer sozusagen materielle Form, wie ein verborgener Motor, der sich durch die Bewegung offenbart. Nur die Reinkarnation kann dem Menschen klar machen, „woher er kommt, wohin er geht, warum er auf der Erde ist“ sowie alle Anomalien und alle scheinbaren Ungerechtigkeiten, die das Leben mit sich bringt, rechtfertigen. *

Ohne das Prinzip der Vorexistenz der Seele und die Pluralität der Existenzen sind die Maximen des Evangeliums zum großen Teil unverständlich. Deswegen sind widersprüchliche Interpretationen vorgekommen. Dieses Prinzip ist der Schlüssel, der ihnen den wahren Sinn zurückgeben soll.


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* Um das Dogma der Reinkarnation zu studieren, sollte man folgende Bücher lesen: „Das Buch der Geister“, Kap. IV und V; – „Über das Wesen des Spiritismus“, Kap. II, von Allan Kardec und – „Die Pluralität der Existenzen“, von Pezzani




Die Reinkarnation stärkt die Familienbande, während die einmalige Existenz sie bricht.

18. Die Familienbande werden durch die Reinkarnation nicht zerstört, wie manche Leute denken. Im Gegenteil, sie werden verstärkt und enger, während das gegenteilige Prinzip sie zerstört.

Die Geister bilden im All Gruppen oder Familien, die sich durch Zuneigung, Sympathie und ähnliche Neigungen verbunden fühlen. Diese Geister, um glücklich miteinander zu sein, suchen einander. Die Reinkarnation trennt sie nur vorübergehend, denn sobald sie zur Erratizität zurückkehren, treffen sie sich wieder wie Freunde nach der Rückkehr einer Reise. Oftmals sogar folgen sie einander in eine Inkarnation, wo sie sich in einer gleichen Familie oder in einem gleichen Kreis wieder vereinigen und zusammen für ihren gegenseitigen Fortschritt arbeiten. Wenn die einen inkarniert und die anderen es nicht sind, bleiben sie trotzdem durch den Gedanken verbunden. Diejenigen, die frei sind, wachen über die, die in der Gefangenschaft sind; die Fortgeschrittenen helfen den Nachzüglern weiter zu kommen. Nach jeder Existenz haben sie einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Vervollkommnung gemacht. Immer weniger an die Materie gebunden, ist deren Zuneigung intensiver dadurch, dass sie geläutert und weder durch Egoismus noch durch die Beeinträchtigungen der Leidenschaften gestört werden. Sie können also eine unbegrenzte Zahl von körperlichen Existenzen durchlaufen, ohne dass ihre gegenseitige Zuneigung beeinträchtigt wird.

Hier versteht man, dass es sich um die wahre Zuneigung von Seele zu Seele handelt, die einzige, die die Vernichtung des Körpers überlebt, weil die Wesen, die sich in dieser Welt nur durch die Sinne verbinden, keinen Grund haben, sich in der geistigen Welt zu suchen. Es gibt nichts Dauerhafteres als die geistige Zuneigung. Die körperlichen Beziehungen erlöschen mit der Ursache, die sie erzeugt hat; diese Ursache besteht nicht mehr in der Welt der Geister, während die Seele immer existiert. Was die Menschen betrifft, die sich nur aus eigenem Interesse verbinden, sie haben in Wirklichkeit nichts füreinander übrig: der Tod trennt sie sowohl auf Erden wie auch im Himmel.

19. Die Freundschaft und die Zuneigung zwischen Verwandten sind Indizien der vorherigen Sympathie, die sie einander näher gebracht hat. Wenn eine Person, deren Charakter, Geschmack und Neigung keine Ähnlichkeit mit denen seiner Verwandten hat, sagt man, dass sie nicht zur Familie gehört. Indem man das sagt, drückt man eine Wahrheit aus, die tiefer ist als man denkt. Gott erlaubt solche Inkarnationen von unsympathischen und befremdenden Geistern in Familien in zweifacher Hinsicht: sie sollen als Prüfung für die einen sowie als Mittel des Fortschritts für die andern dienen. Die Bösen verbessern sich dann nach und nach durch den Kontakt mit den Guten und durch deren Einfluss, ihr Charakter wird besänftigt, ihre Gewohnheiten werden verbessert und ihre Abneigungen beseitigt. Es kommt zu einer Verschmelzung zwischen den verschiedenartigen Geistern, genau wie auf Erden zwischen Rassen und Völkern.

20. Die Angst vor einer unbegrenzten Zunahme der Verwandtschaft als Folge der Reinkarnation ist eine rein egoistische Angst, die beweist, dass man keine umfassende Liebe empfinden und auf eine große Zahl von Menschen übertragen kann. Hat ein Vater, der mehrere Kinder hat, diese weniger lieb, als wenn er nur ein einziges hätte? Mögen die Egoisten sich beruhigen, denn diese Angst ist unbegründet. Aus der Tatsache heraus, dass ein Mensch zehn Inkarnationen gehabt hat, kann man nicht schließen, dass er in der geistigen Welt zehn Väter, zehn Mütter, zehn Frauen und eine verhältnismäßig große Zahl von Kindern und neuen Verwandten wieder antreffen wird. Er wird immer nur den gleichen wieder begegnen, die er lieb hatte und die mit ihm auf Erden unter verschiedenen Gesinnungen oder vielleicht unter derselben Gesinnung verbunden waren.

21. Betrachten wir jetzt die Konsequenzen der Anti-Reinkarnationslehre. Diese Lehre annulliert zwangsläufig die Vorexistenz der Seele. Da hiernach die Seelen zur gleichen Zeit wie ihre Körper erschaffen werden, existiert kein vorheriges Band zwischen ihnen. Sie sind vollkommen fremd zueinander. Der Vater ist seinem Sohn fremd. Die Abstammung der Familien beschränkt sich also nur auf die körperliche Verbindung, ohne irgendeine spirituelle Bindung. Es gibt also keinen Grund zu prahlen, dass man diese oder jene berühmte Persönlichkeit als Vorfahren gehabt hat. Durch die Reinkarnation aber können Vorfahren und Nachkommen sich schon kennen gelernt, zusammen gelebt, sich geliebt haben und sich später zusammen vereint finden, um ihre sympathischen Beziehungen enger zu knüpfen.

22. Dies betrifft die Vergangenheit! Was die Zukunft angeht, so ist – gemäß eines der Hauptdogmen aus der Anti-Reinkarnationslehre – das Schicksal der Seelen unwiderruflich nach einer einmaligen Existenz festgelegt. Die endgültige Festsetzung des Schicksals impliziert die Beendigung jeglichen Fortschritts, denn wenn es irgendeinen Fortschritt gibt, kann es kein endgültiges Schicksal geben. Je nachdem, ob sie gut oder schlecht gelebt haben, gehen sie sofort zum Ort der Glückseligen oder zur ewigen Hölle; sie sind also sofort für immer getrennt, ohne Hoffnung, dass sie sich jemals wieder näher kommen können; so dass Väter, Mütter und Kinder, Ehemann und Ehefrau, Brüder und Schwestern sowie Freunde nie sicher sein können, sich wiederzusehen. Es ist der absolute Bruch der Familienbande.

Mit der Reinkarnation und dem Fortschritt, der daraus resultiert, treffen sich alle wieder, die sich geliebt haben, sowohl auf Erden wie auch im Universum, um zusammen zu Gott zu streben. Wenn einige auf dem Weg zu Fall kommen, verlangsamen sie ihren Fortschritt und ihr Glück, aber ihre Hoffnung ist nicht vollends verloren; Hilfe erhaltend, ermutigt und unterstützt von denjenigen, die sie lieben, werden sie eines Tages aus dem Sumpf herauskommen, in dem sie versunken sind. Mit der Reinkarnation entwickelt sich eine unaufhörliche Solidarität zwischen den Inkarnierten und den nicht Inkarnierten, woraus sich eine Festigung der Liebe ergibt.

23. Zusammengefasst: Dem Menschen werden vier Alternativen für seine Zukunft jenseits des Grabes aufgezeigt: 1. das Nichts, gemäß der materialistischen Lehre; 2. die Aufnahme in das universelle Ganze, gemäß der pantheistischen Lehre; 3. die Individualität mit der endgültigen Festsetzung ihres Schicksals, gemäß der kirchlichen Lehre; 4. die Individualität mit dem grenzenlosen Fortschritt, gemäß der spiritistischen Lehre.

Entsprechend der beiden ersten Alternativen brechen die Familienbande nach dem Tod auseinander und es gibt keine Hoffnung auf ein Wiedersehen; mit der Dritten gibt es eine Chance, sich wiederzusehen, sofern man sich in der gleichen Umgebung befindet, und diese Umgebung kann sowohl die Hölle wie auch das Paradies sein. Mit der Pluralität der Existenzen, die von der stufenweisen Progression untrennbar ist, gibt es die Gewissheit über die Fortdauer der Beziehungen zwischen jenen, die sich geliebt haben; und das ist es, was die wahre Familie bildet.

Unterweisungen der geistigen Welt Grenzen der Inkarnation

24. Welche sind die Grenzen der Inkarnation?
Die Inkarnation hat keine genau gezogenen Grenzen, wenn man damit die Hülle versteht, die den Körper des Geistes bildet, da die Stofflichkeit dieser Hülle schwindet, je mehr der Geist sich reinigt. In gewissen Welten, die entwickelter sind als die Erde, ist sie leichter, weniger kompakt und nicht so grob und deshalb weniger den Schicksalsschlägen unterworfen. In einem höheren Grad ist sie durchsichtig und fast fluidal. Diese Hülle dematerialisiert sich von Grad zu Grad, um schließlich mit dem Perispirit zu verschmelzen. Je nachdem zu welcher Welt der Geist in eine Verkörperung gerufen worden ist, nimmt dieser die angemessene Hülle, die zu dieser Welt gehört.

Der Perispirit selbst durchläuft ununterbrochene Veränderungen; er wird immer ätherischer bis zur vollständigen Läuterung, die dem Zustand der reinen Geister entspricht. Wenn als Aufenthalt für entwickelte Geister besondere Welten bestimmt sind, fühlen sich diese dort nicht so gebunden, wie in den niederen Welten. Der befreite Zustand, in welchem sie sich befinden, befähigt sie, überall hinzugehen, wohin anvertraute Missionen sie rufen.

Wenn man die Inkarnation unter dem materiellen Gesichtspunkt betrachtet, wie sie auf der Erde vorkommt, kann man sagen, dass die Inkarnation sich auf die niederen Welten beschränkt. Es hängt also vom Geist ab, sich von ihr, mehr oder weniger schnell zu befreien, indem er für seine Reinigung arbeitet.

Man soll auch bedenken, dass in dem nicht inkarnierten Zustand, d.h. in der Erratizität der körperlichen Existenzen, die Situation des Geistes im Verhältnis zur Natur der Welt steht, an welche der Grad seines Fortschritts ihn bindet. Daher ist er in der Erratizität mehr oder weniger glücklich, frei und aufgeklärt, je nachdem er mehr oder weniger dematerialisiert ist.

Notwendigkeit der Inkarnation

25. Ist die Inkarnation eine Strafe und sind ihr nur die schuldigen Geister unterworfen?
Die Geister müssen körperliche Leben durchlaufen, damit sie durch materielle Handlungen die Pläne erfüllen können, deren Ausführung Gott ihnen anvertraut hat. Dieses Leben ist für sie erforderlich, weil die Aufgaben, die sie erfüllen müssen, ihnen zur Entwicklung ihrer Intelligenz verhelfen. Gott, der überaus gerecht ist, muss aber alle Seine Kinder gleich behandeln; deswegen gibt ER allen den gleichen Ausgangspunkt, die gleichen Fähigkeiten, die gleichen Verpflichtungen zu erfüllen und die gleiche Freiheit zu handeln. Jegliches Privileg wäre ein Vorzug und jeglicher Vorzug eine Ungerechtigkeit. Aber die Inkarnation ist für alle Geister nur ein vorübergehender Zustand; sie ist eine Aufgabe, die Gott den Menschen bei ihrem Eintritt in das Leben als erste Prüfung ihrer freien Entscheidung auferlegt. Diejenigen, die diese Aufgabe mit Eifer erfüllen, durchlaufen schnell und weniger schmerzlich ihre ersten Stufen der Unterweisung und genießen früher die Früchte ihrer Arbeiten. Diejenigen, die im Gegensatz dazu schlecht mit der ihnen von Gott gegebenen Freiheit umgehen, verlangsamen ihren Fortschritt. So können sie durch ihre Hartnäckigkeit erneute Inkarnationen über eine unbestimmte Zeit hinweg erforderlich machen, und so kommt es, dass die Inkarnation zu einer Strafe wird. (Sankt Ludwig, Paris, 1859)

26. Bemerkung: – Ein gewöhnlicher Vergleich wird diesen Unterschied besser verständlich machen. Ein Schüler erreicht erst die Stufen der Wissenschaft, nachdem er alle Klassen, die dorthin führen, durchlaufen hat. Diese Klassen, egal was für eine Arbeit sie verlangen, sind ein Mittel, um das Ziel zu erreichen und keine Bestrafung. Der fleißige Schüler verkürzt seinen Weg und trifft somit auf weniger Dornen. Anders geschieht es demjenigen, dessen Nachlässigkeit und Faulheit ihn zur Wiederholung gewisser Klassen zwingen. Nicht die Arbeit in der Klasse ist eine Bestrafung, sondern die Verpflichtung, die gleiche Arbeit von vorne wieder beginnen zu müssen.

So geschieht es mit dem Menschen auf der Erde. Für den Geist des Unzivilisierten, der sich fast am Anfang des geistigen Lebens befindet, ist die Inkarnation ein Mittel, um seine Intelligenz zu entwickeln. Aber für den aufgeklärten Menschen – bei dem der moralische Sinn schon weitgehend entwickelt ist und der gezwungen ist, die Etappen eines körperlichen Lebens voller Angstgefühle wieder von vorne anzufangen, während er schon sein Ziel hätte erreichen können – ist die erforderliche Verlängerung seines Aufenthaltes in niederen und unglücklichen Welten eine Strafe. Derjenige, der im Gegensatz dazu sehr fleißig für seinen moralischen Fortschritt arbeitet, kann nicht nur die Dauer der materiellen Inkarnation verkürzen, sondern die Zwischenstufen, die ihn von den höheren Welten trennen, auf einmal durchlaufen.

Können die Geister nicht auch nur ein einziges Mal auf der gleichen Welt inkarnieren und ihre verschiedenen Existenzen auf verschiedenen Planeten erfüllen? Diese Auffassung wäre nur zulässig, wenn sich alle Menschen auf der Erde auf dem gleichen intellektuellen und moralischen Niveau befänden. Die Unterschiede, die zwischen den unzivilisierten und den zivilisierten Menschen existieren, zeigen die Stufen, die sie durchlaufen müssen. Die Inkarnation muss ein nützliches Ziel haben. Nun, welchen Zweck hätten die kurzlebigen Inkarnationen von Kindern, die im zarten Alter sterben? Sie hätten ohne Nutzen für sich und für die anderen gelitten. Gott, dessen Gesetze von höchster Weisheit sind, macht nichts Unnützes. Durch die Inkarnation auf der gleichen Welt hat ER gewollt, dass dieselben Geister, die erneut miteinander in Kontakt kommen, die Möglichkeit haben, ihre gegenseitigen Fehler wieder gutzumachen. Auf Grund ihrer vorhergehenden Beziehungen will ER einerseits die Familienbande auf einer spirituellen Basis vereinigen und andererseits die Prinzipien der Solidarität, Brüderlichkeit und Gleichheit durch ein Naturgesetz stützen.