DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Was der Geist braucht, um gerettet zu werden. Das Gleichnis vom guten Samariter

1. Wenn aber der Menschensohn in Seiner Herrlichkeit kommen wird und alle Engel mit Ihm, dann wird Er sich auf den Thron Seiner himmlischer Herrlichkeit setzen. – Vor Ihm werden alle Völker versammelt werden, und Er wird sie voneinander trennen, wie der Hirte die Schafe von den Böcken trennt. – Und die Schafe wird Er zu Seiner Rechten stellen, die Böcke aber zur Linken.


Dann wird der König zu denen zu Seiner Rechten sagen: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt Besitz von dem Reich, das für euch seit Anbeginn der Welt bereitgehalten wurde. – Denn ich war hungrig und ihr habt mich gespeist; ich war durstig und ihr habt mich getränkt; ich benötigte Unterkunft und ihr habt mich beherbergt; ich war nackt und ihr habt mich bekleidet; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“


Dann werden Ihm die Gerechten antworten: „Herr, wann sahen wir Dich hungrig und haben Dich gespeist? oder durstig und haben Dich getränkt? – Wann sahen wir Dich ohne Unterkunft und haben Dich beherbergt? oder nackt und haben Dich bekleidet? – Wann sahen wir Dich krank oder im Gefängnis und haben Dich besucht?“ – Der König wird ihnen antworten: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“


Danach wird Er zu denen auf Seiner linken Seite sagen: „Geht hinweg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bereitet ist! – Denn ich war hungrig, und ihr habt mich nicht gespeist; ich war durstig, und ihr habt mich nicht getränkt; ich war ohne Unterkunft, und ihr habt mich nicht beherbergt; ich war nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht.“


Dann werden auch sie antworten: „Herr, wann sahen wir Dich hungrig oder durstig, ohne Unterkunft oder nackt, krank oder im Gefängnis und haben dir nicht geholfen?“ – Dann wird Er ihnen antworten: „Wahrlich, ich sage euch: was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“


Und diese werden in die ewige Qual gehen, die Gerechten aber in das ewige Leben. (Matthäus, Kap. XXV, 31-46)


2. Da stand ein Schriftgelehrter auf, um Ihn auf die Probe zu stellen und fragte: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ – Jesus gab ihm zur Antwort: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest Du?“ – Darauf antwortete er: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.“ – Jesus sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben!“


Jener aber stellte sich, als wäre er ein Gerechter und fragte weiter: „Wer ist denn mein Nächster?“ – Jesus ergriff das Wort und sagte zu ihm: „Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Räubern in die Hände. Diese plünderten ihn aus, schlugen ihn blutig und ließen ihn halbtot liegen. – Danach ging ein Priester jene Straße hinab, sah ihn und ging vorüber. – Ebenso kam auch ein Levit an diesen Ort, sah ihn und ging ebenfalls vorüber. – Ein Samariter aber, der reiste, kam gleichfalls an diesen Ort, und als er diesen Mann sah, erbarmte er sich seiner. – Er trat zu ihm, goss Öl und Wein in seine Wunden und verband sie, hob ihn auf sein Pferd, brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. – Am folgenden Tag nahm er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sagte: ‚Pflege ihn! und was du mehr aufwenden wirst, will ich dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.‘ Welcher von diesen dreien erscheint dir der Nächste dessen gewesen zu sein, der den Räubern in die Hände gefallen war?“ – Der Schriftgelehrte antwortete: „Der, welcher ihm die Barmherzigkeit erwiesen hat.“ – Jesus sprach zu ihm: „Geh auch du hin und tu desgleichen!“ (Lukas, Kap. X, 25-37)


3. Jesus fasste die ganze Lehre der Moral in der Nächstenliebe und Demut zusammen, d.h. in den zwei Tugenden, die im Gegensatz zum Egoismus und zum Stolz stehen. In all seinen Lehren verweist Er auf diese zwei Tugenden, als diejenigen, die zur ewigen Glückseligkeit führen: – Selig, sagte Er, sind die geistig Armen, d.h. die Demütigen, denn ihrer ist das Himmelreich; selig sind die, die reinen Herzens sind; selig sind die, die sanftmütig und friedfertig sind; selig sind die, die barmherzig sind. Liebt euren Nächsten wie euch selbst; tut dem andern das, was ihr möchtet, das man es euch tut; liebt eure Feinde; vergebt die Beleidigungen, wenn ihr wollt, dass euch vergeben wird; tut Gutes, ohne zu prahlen; beurteilt euch selbst, bevor ihr die andern beurteilt. – Demut und Nächstenliebe, das ist es, was Er stets empfohlen hat und wovon Er selbst ein Beispiel gibt. Unermüdlich bekämpft Er Stolz und Egoismus. Und Er beschränkt sich nicht darauf, die Nächstenliebe zu empfehlen, Er setzt sie eindeutig und in klaren Worten als unumschränkte Bedingung der Glückseligkeit voraus.


In der Schilderung, die Jesus vom Jüngsten Gericht gibt, muss man, wie bei vielen anderen Dingen, das Bildliche vom Allegorischen trennen. Den Menschen, zu denen Er sprach und die noch nicht fähig waren, rein spirituelle Zusammenhänge zu verstehen, musste Er materielle Bilder aufzeigen, die ergreifend waren und beeindrucken konnten. Um besser verstanden zu werden, durfte Er sich bezüglich der Form nicht zu weit von den damals bestehenden Anschauungen entfernen; deshalb überlässt Er der Zukunft die wahre Interpretation Seiner Worte und der Themen, die Er noch nicht klar ausdrücken konnte. Aber neben diesem allegorischen und figurativen Teil der Schilderung gibt es einen dominierenden Grundgedanken: – Die Glückseligkeit, die auf den Gerechten wartet, und das Unglück, das für den Bösen reserviert ist.


Aber, was sind die Entscheidungsgründe für das Urteil des Jüngsten Gerichts? Worauf bezieht sich die Untersuchung? Fragt der Richter danach, ob diese oder jene Formalität erfüllt worden ist, ob diese oder jene äußere Handlung mehr oder weniger durchgeführt wurde? Nein, er wird einzig und allein danach fragen: ob man die Nächstenliebe praktiziert hat, und er wird sein Urteil folgendermaßen aussprechen: „Ihr, die ihr euren Geschwistern geholfen habt, geht nach rechts. Ihr, die ihr ihnen gegenüber hart gewesen seid, geht nach links. Wird er sich nach der Orthodoxie des Glaubens erkundigen? Macht Er irgendeinen Unterschied zwischen denen, die auf die eine oder die andere Art und Weise glauben? Nein, denn Jesus setzt den als ketzerisch angesehenen Samariter, der den Nächsten liebt, über den Rechtgläubigen, dem es an Nächstenliebe mangelt. Er sieht daher die Nächstenliebe nicht nur als eine der Voraussetzungen zur Rettung, sondern als die einzige Voraussetzung. Wenn noch andere zu erfüllen wären, hätte Er auf sie hingewiesen. Wenn Er die Nächstenliebe an die erste Stelle unter den Tugenden setzt, bedeutet das, dass sie selbstverständlich alle anderen beinhaltet: die Demut, die Sanftmut, das Wohlwollen, die Nachsicht, die Gerechtigkeit usw., und auch, weil die Nächstenliebe die absolute Verneinung des Stolzes und des Egoismus ist.