Himmel und Hölle oder Die göttliche Gerechtigkeit

Allan Kardec

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Vorwort
(des Verfassers, Allan Kardec, in der ersten Veröffentlichung von „Himmel und Hölle“ im August 1865.)*


Der Titel dieses Buches macht deutlich, worum es geht. Wir haben in diesem Buch alle Elemente zusammengestellt, die geeignet sind, den Menschen über sein Schicksal aufzuklären. Wie in unseren anderen Schriften über die Spiritistische Lehre haben wir auch in diesem Buch nicht das Produkt eines vorgefassten Systems oder einer persönlichen Auffassung, die keine Autorität hat, dargestellt; alles ist aus der Beobachtung und der Übereinstimmung mit den Tatsachen abgeleitet.

Das Buch der Geister enthält die fundamentalen Grundlagen des Spiritismus; es ist der Eckstein des Gebäudes; alle Prinzipien der Lehre werden darin aufgestellt, bis hin zu jenen, die ihre Krönung bilden sollen. Aber es war notwendig, die Entwicklungen darzulegen, alle Konsequenzen und Anwendungen daraus abzuleiten, in dem Maße, wie sie sich durch die zusätzliche Lehre der Geister und durch neue Beobachtungen entwickelten. Das ist es, was wir im Buch der Medien und im Evangelium aus der Sicht des Spiritismus unter besonderen Gesichtspunkten getan haben. Das ist es, was wir in diesem Werk unter einem anderen Gesichtspunkt tun, und das ist es, was wir nach und nach in den noch zu veröffentlichenden Werken tun werden, die zu ihrer Zeit kommen werden.

Neue Ideen tragen nur dann Früchte, wenn der Boden für ihre Aufnahme vorbereitet ist, und mit diesem vorbereiteten Boden sind nicht einige frühreife Intelligenzen gemeint, die nur vereinzelt Früchte hervorbringen würden, sondern eine gewisse Gesamtheit in der allgemeinen Veranlagung, damit nicht nur reiche Früchte hervorgebracht werden, sondern die Idee, die eine größere Anzahl von Stützpunkten findet, weniger Widerstand erfährt und stärker ist, um ihren Antagonisten zu widerstehen. Das Evangelium aus der Sicht des Spiritismus war bereits ein Schritt nach vorn. Der Himmel und die Hölle ist ein weiterer Schritt, dessen Tragweite leicht verständlich sein wird, da er den Kern einiger Fragen berührt, aber er hätte nicht früher kommen dürfen.

Betrachtet man die Zeit, in der der Spiritismus entstand, so erkennt man ohne weiteres, dass er zur rechten Zeit kam, weder zu früh noch zu spät. Früher wäre er ge scheitert, weil er, da die Sympathien nicht zahlreich genug waren, den Schlägen seiner Gegner erlegen wäre. Später hätte er die günstige Gelegenheit verpasst, sich zu entfalten. Die Ideen hätten einen anderen Kurs einschlagen können, von dem sie nur schwer abzubringen gewesen wären. Man musste den alten Ideen Zeit geben, sich abzunutzen und ihre Unzulänglichkeit zu beweisen, bevor man neue Ideen präsentiert.

Die meisten Menschen sind noch nicht reif genug, um sie zu verstehen, und das Bedürfnis nach einer Veränderung ihrer Position ist noch nicht spürbar. Heute ist es für jedermann offensichtlich, dass sich in der Meinung eine immense Bewegung manifestiert. Eine gewaltige Reaktion findet in progressiver Richtung gegen den stationären oder rückwärtsgewandten Geist der Routine statt, die Zufriedenen von gestern sind die Ungeduldigen von morgen. Die Menschheit befindet sich in den Geburtswehen. Es liegt etwas in der Luft, eine unwiderstehliche Kraft, die sie vorwärtstreibt. Sie ist wie ein junger Mann, der aus der Pubertät kommt und neue Horizonte erblickt, ohne sie zu definieren, und die Windeln der Kindheit abschüttelt. Man will etwas Besseres, eine solidere Nahrung für den Verstand. Aber dieses Bessere liegt noch im Dunkeln. Man sucht es, alle arbeiten daran, vom Gläubigen bis zum Ungläubigen, vom Landwirt bis zum Gelehrten. Das Universum ist eine große Baustelle. Die einen reißen ab, die an deren bauen wieder auf. Jeder hämmert einen Stein für das neue Gebäude, für das der große Architekt allein den endgültigen Plan besitzt und dessen Ökonomie man erst verstehen wird, wenn seine Formen beginnen, sich über der Erdoberfläche abzuzeichnen. Dies ist der Zeitpunkt, den die souveräne Weisheit für das Aufkommen des Spiritismus gewählt hat.

Die Geister, die die große regenerative Bewegung leiten, handeln also mit mehr Weisheit und Voraussicht, als die Menschen es tun können, weil sie den allgemeinen Gang der Ereignisse umfassen, während wir nur den begrenzten Kreis unseres Horizonts sehen. Da die Zeit der Erneuerung gemäß den göttlichen Dekreten gekommen war, musste der Mensch inmitten der Ruinen des alten Gebäudes, um nicht entmutigt zu werden, die Grundlagen der neuen Ordnung der Dinge erblicken. Der Matrose musste den Polarstern sehen, der ihn in den Hafen führen sollte. Die Weisheit der Geister, die sich in der Entstehung des Spiritismus zeigte, der fast augenblicklich von der ganzen Erde zur günstigsten Zeit offenbart wurde, ist nicht weniger offensichtlich in der logischen Reihenfolge und Abstufung der aufeinander folgenden ergänzenden Offenbarungen. Es hängt von niemandem ab, ihren Willen in dieser Hinsicht zu erzwingen, denn sie messen ihre Lehren nicht nach der Ungeduld der Menschen. Es genügt nicht, dass wir sagen: „Wir möchten dies und jenes haben“, damit es gegeben wird, und noch weniger ist es angebracht, dass wir zu Gott sagen: „Wir halten die Zeit für gekommen, dass du uns dies und jenes gibst. Wir halten uns selbst für fortgeschritten genug, um es zu empfangen“, denn das hieße zu ihm sagen: „Wir wissen besser als Du, was zu tun ist.“ Den Ungeduldigen antworten die Geister: „Beginnt damit, dass ihr das, was ihr wisst, gut kennt, gut versteht und vor allem gut übt, damit Gott euch für würdig erachtet, mehr zu lernen. Dann, wenn die Zeit ge kommen ist, werden wir zu handeln wissen und unsere Instrumente wählen.“ Der erste Teil dieses Buches, der den Titel „Lehre“ trägt, enthält eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen Glaubensrichtungen über Himmel und Hölle, Engel und Dämonen, Strafen und zukünftige Belohnungen. Das Dogma der ewigen Strafen wird hier in besonderer Weise betrachtet und durch Argumente widerlegt, die aus den Naturgesetzen selbst abgeleitet sind und nicht nur die bereits hundertmal erwähnte Unlogik, sondern auch die materielle Unmöglichkeit dieses Dogmas belegen. Mit den ewigen Strafen fallen natürlich auch die Konsequenzen weg, die man daraus zu ziehen geglaubt hatte. Der zweite Teil enthält zahlreiche Beispiele, die die Theorie stützen oder besser gesagt, die dazu dienten, die Theorie zu begründen. Sie schöpfen ihre Autorität aus der Ver schiedenheit der Zeiten und Orte, an denen sie erhalten wurden, denn wenn sie aus einer einzigen Quelle stammten, könnte man sie als das Produkt desselben Einflusses betrachten. Sie schöpfen sie außerdem aus ihrer Übereinstimmung mit dem, was täg lich überall dort erhalten wird, wo man sich mit spiritistischen Manifestationen unter einem ernsthaften und philosophischen Gesichtspunkt befasst. Diese Beispiele hätten endlos fortgesetzt werden können, denn es gibt kein spiritistisches Zentrum, das nicht ein beachtliches Kontingent an Beispielen liefern könnte. Um langwierige Wiederho lungen zu vermeiden, mussten wir eine Auswahl aus den lehrreichsten treffen. Jedes dieser Beispiele ist eine Studie, in der jedes Wort für jeden, der aufmerksam darüber nachdenkt, von Bedeutung ist, denn jeder Punkt wirft ein Licht auf die Situation der Seele nach dem Tod und den bis dahin so dunklen und gefürchteten Übergang vom körperlichen zum geistigen Leben. Es ist der Leitfaden für den Reisenden, bevor er ein neues Land betritt. Das Leben nach dem Tod wird in all seinen Aspekten wie ein riesiges Panorama dargestellt. In diesen Beispielen, die größtenteils zeitgenössischen Ereignissen entnommen sind, haben wir die Eigennamen aus Gründen der Zweckmäßigkeit, die leicht zu beurteilen sind, so oft wie möglich verschwiegen. Diejenigen, die diese Beispiele interessieren könnten, werden sie leicht wiedererkennen. Für die Öffentlichkeit hätten mehr oder weniger bekannte und manchmal sehr unklare Namen nichts zu der Belehrung beige tragen, die man daraus ziehen kann. Die gleichen Gründe, die uns veranlasst haben, die Namen der Medien im „Evangelium aus der Sicht des Spiritismus“ zu verschweigen, haben uns veranlasst, sie in diesem Werk, das mehr noch als für die Gegenwart für die Zukunft geschrieben wurde, nicht zu nennen. Sie sind daran umso weniger interessiert, als sie sich nicht das Verdienst einer Sache anrechnen lassen können, an der ihr eigener Geist in keiner Weise beteiligt war. Es ist eine flüchtige Fähigkeit, die dem Willen der Geister, die sich mitteilen wollen, untergeordnet ist, die man heute besitzt und die am nächsten Tag fehlen kann, die niemals auf alle Geister ohne Unterschied anwendbar ist und daher kein persön liches Verdienst darstellt, wie es ein Talent wäre, das durch Arbeit und Anstrengung des Verstandes erworben wurde. Aufrichtige Medien, die den Ernst ihrer Aufgabe verstehen, betrachten sich als Werkzeuge, die Gottes Wille nach Belieben zerbrechen kann, wenn sie nicht nach seinen Vorstellungen handeln. Sie freuen sich über eine Fähigkeit, die es ihnen ermöglicht, sich nützlich zu machen, aber sie sind nicht stolz darauf. Im Übrigen haben wir uns in diesem Punkt an den Rat unserer geistigen Führer ge halten. Die Vorsehung wollte, dass die neue Offenbarung nicht das Vorrecht eines Einzelnen sei, sondern dass sie auf der ganzen Erde, in allen Familien, bei den Großen wie bei den Kleinen ihre Organe habe, gemäß dem Wort, das die Medien unserer Tage erfüllen: „In den letzten Tagen wird es geschehen, spricht Gott, werde ich meinen Geist ausgie ßen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, eure Jünglinge werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Und ich werde euch mit meinem Geist segnen. In jenen Tagen werde ich meinen Geist auf meine Knechte und meine Mägde ausgießen, und sie werden weissagen.“ (Apostelgeschichte, Kap. II, V. 17 u. 18) Es heißt aber auch: „Es werden falsche Christusse und falsche Propheten auferstehen.“ (Siehe dazu: Das Evangelium aus der Sicht des Spiritismus, Kap. XXI.) Doch diese letzten Zeiten sind gekommen. Es ist nicht das Ende der materiellen Welt, wie man geglaubt hat, sondern das Ende der moralischen Welt, das heißt, der Beginn der Ära der Regeneration.



Dieses Vorwort war in der 4. französischen Ausgabe „Der Himmel und die Hölle“ (1869) – definitive Edition – welche als Basis dieser Übersetzung diente, nicht mehr vorhanden. Es erschien allerdings in der ersten Publikation des Buches im August 1865. Beim Einfügen an dieser Stelle beabsichtigen wir, diese fast unbekannten Anführungen des Verfassers des Spiritismus für die neuen Generationen zu bewahren und für das Studium der Spiritistischen Lehre anzubieten.