5. Es gibt zwei unterschiedliche Teile im Gesetz Moses, das eigentliche Gesetz Gottes, das auf dem Berg Sinai verkündet wurde, und das bürgerliche oder Strafgesetz, das den Sitten und dem Weltbild des Volkes angepasst ist. Das eine ist unveränderlich, das andere verändert sich im Laufe der Zeit, und es kann niemand auf den Gedanken kommen, dass wir mit denselben Mitteln gelenkt und geleitet werden könnten wie die Hebräer in der Wüste, ebensowenig wie die Gesetze und Verordnungen (Kapitularien) Karls des Großen sich auf das Frankreich des 19. Jahrhunderts anwenden lassen würden (Anmerkung: Himmel und Hölle erschien im August 1865). Wer möchte z.B. daran denken, jene Verfügung des mosaischen Gesetzes in der heutigen Zeit wieder aufleben zu lassen: “Wenn ein Ochse einen Mann oder eine Frau mit seinem Horn verletzt und sie dadurch sterben, so soll der Ochse gesteinigt werden und man soll nicht von seinem Fleisch essen; aber der Herr des Ochsen soll als unschuldig gelten?” (2. Buch Mose, Kap. 21, Vers 28 - 29).
Diese Bestimmung, die uns so sinnlos erscheint, bezog sich aber nicht auf die Bestrafung des Ochsen und den Freispruch seines Herrn. Sie bedeutete einfach die Wegnahme und Beschlagnahme des Tieres als Verursacher des Unfalls und sollte den Eigentümer zu größerer Wachsamkeit veranlassen. Der Verlust des Ochsen war die Strafe für den Besitzer, eine Strafe, die bei einem Hirtenvolk empfindlich genug sein musste, so dass es nicht erforderlich wurde, ihm eine andere aufzuerlegen. Aber der Verlust durfte für niemanden von Nutzen sein; darum war es untersagt, das Fleisch des Ochsen zu essen. Andere Bestimmungen regeln den Fall, in dem der Herr und Besitzer verantwortlich gemacht wird.
Alles hatte in der Gesetzgebung des Moses seine Berechtigung. Denn dort ist alles vorgesehen, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein. Aber die Form und der Inhalt entsprachen den Umständen, in denen er sich befand. Wenn Mose heutzutage wiederkäme, um einem gesitteten europäischen Volk ein Gesetzbuch zu geben, so würde er ihm gewiss nicht das der Hebräer geben.
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Himmel und Hölle oder Die göttliche Gerechtigkeit > Erster Teil - Die Lehre > Kapitel XI - Vom Verbot der Anrufung Toter > 5