Himmel und Hölle oder Die göttliche Gerechtigkeit

Allan Kardec

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Ursachen der Furcht vor dem Tod

1. Der Mensch, zu welcher Stufe der Entwicklung er auch gehören mag, hat seit dem Zustand der frühen Urzeit ein angeborenes Gefühl von einem zukünftigen Leben. Eine innere Stimme sagt ihm, dass der Tod nicht das Ende der Existenz ist und dass diejenigen, die wir betrauern, nicht endgültig verloren sind. Der Glaube an die Zukunft beruht auf Intuition und ist weitaus verbreiteter als der Glaube an das “Nichts”. Woher kommt es dann, dass jene, die an die Unsterblichkeit der Seele glauben, immer noch so sehr mit den irdischen Dingen verbunden sind und eine so große Furcht vor dem Tod haben?


2. Die Angst vor dem Tod wird von der Weisheit der Vorsehung bewirkt und ist eine Folge des Selbsterhaltungstriebs aller Lebewesen. Sie ist notwendig, solange der Mensch über die Umstände des zukünftigen Lebens unzureichend aufgeklärt ist, als Gegengewicht für den Impuls, der uns ohne diesen Zügel dazu bringen würde, das irdische Leben vorzeitig zu verlassen und die zu verrichtende Arbeit auf Erden zu vernachlässigen, die unserem eigenen Fortschritt dienen soll.

Das ist der Grund, warum bei den Urvölkern dieses zukünftige Leben nur eine vage Intuition ist, die dann später zu einer einfachen Hoffnung und schließlich zur Gewissheit wird, aber immer noch durch ein instinktives Festhalten an dem körperlichen Leben getrübt ist.


3. In dem Maße, wie der Mensch das zukünftige Leben besser versteht, verringert sich seine Furcht vor dem Tod. Aber gleichzeitig, wenn er seine Aufgabe auf Erden besser erkennt, erwartet er sein Ende mit mehr Ruhe, Ergebenheit und ohne Angst. Die Gewissheit des zukünftigen Lebens gibt seinen Gedanken eine andere Richtung und seinen Arbeiten einen anderen Sinn. Bevor er diese Gewissheit erlangt hat, arbeitet er nur für das gegenwärtige Leben; mit dieser Gewissheit arbeitet er mit dem Blick auf die Zukunft, ohne die Gegenwart zu vernachlässigen, weil er weiß, dass seine Zukunft von der mehr oder weniger guten Richtung abhängt, die er der Gegenwart gibt. Die Gewissheit, nach dem Tod seine Freunde wiederzutreffen, die Beziehungen, die er auf der Erde gehabt hat, fortzusetzen, die Früchte keiner Arbeit zu verlieren, stets an Einsicht und Verbesserung zu wachsen, gibt ihm Geduld zu warten und Mut, die vorübergehenden Beschwerden des irdischen Lebens zu ertragen. Die Solidarität, die er zwischen den Toten und Lebenden entstehen sieht, lässt ihn jene verstehen, die unter den Lebenden bestehen sollte. Die Brüderlichkeit hat so ihre Daseinsberechtigung und die Nächstenliebe einen Sinn in der Gegenwart und Zukunft.


4. Um sich von der Angst vor dem Tod zu befreien, muss man sie aus dem richtigen Blickwinkel betrachten können, d.h. man muss gedanklich in die geistige Welt eingedrungen sein und sich von ihr eine so genaue Vorstellung wie möglich gebildet haben, was bei dem inkarnierten Geist eine gewisse Entwicklung und eine bestimmte Fähigkeit offenbart, sich vom Materiellen zu lösen. Unter denen, die noch nicht weit genug fortgeschritten sind, hat das physische Leben noch Vorrang vor dem spirituellen.

Der im Materiellen behaftete Mensch sieht das Leben nur im Körper, während das wirkliche Leben in der Seele liegt. Ist der Körper des Lebens beraubt, so ist in seinen Augen alles verloren und er gibt jede Hoffnung auf. Wenn er seine Gedanken nicht auf das äußere Gewand konzentrierte, sondern auf die eigentliche Quelle des Lebens, auf die Seele, die das alles überlebende wirkliche Wesen ist, würde er dem Verlust des Körpers, einer Quelle von so viel Elend und Schmerz, weniger nachtrauern; aber dazu braucht der Mensch eine Kraft, die der Geist erst mit der Reife entwickelt.

Die Furcht vor dem Tod ist also verbunden mit unzureichenden Vorstellungen über das zukünftige Leben. Sie deutet auf das Bedürfnis zu leben hin, 35 und die Angst, dass die Zerstörung des Körpers das Ende von allem sein könnte, wird also getragen von dem geheimen Wunsch, dass die Seele ihn überleben möge, wenn auch teilweise verborgen unter dem Schleier der Ungewissheit.

Diese Furcht nimmt in dem Maße ab, wie sich Gewissheit bildet und verschwindet ganz, wenn diese vollständig ist.

Hier zeigt sich die Weisheit der Vorsehung. Es war weise, den Menschen nicht zu blenden, dessen Vernunft noch nicht stark genug war. Die Verführungen einer zu früh mitgeteilten Gewissheit hätten ihn dazu gebracht, sein gegenwärtiges Leben zu vernachlässigen, das so notwendig für seinen körperlichen und moralischen Fortschritt ist.


5. Diese Sachlage wird auch durch rein menschliche Ursachen aufrechterhalten und verlängert, die mit seinem Fortschritt verschwinden werden. Die erste ist der Aspekt, unter dem bisher das zukünftige Leben dargestellt wurde, eine Ansicht, die einer weniger fortgeschrittenen Intelligenz genügen könnte, jedoch die Anforderungen der Vernunft nachdenkender Menschen nicht zu befriedigen vermag. So sagen sie sich, wenn man uns Lehrmeinungen als absolute Wahrheiten präsentiert, die der Logik und den bewiesenen Tatsachen der Wissenschaft widersprechen, zeigt sich, dass es keine Wahrheiten sind. Daher herrscht bei einigen der Unglaube und bei einer großen Zahl ein mit Zweifeln untermischter Glaube. Das zukünftige Leben ist für sie nur ein vager Begriff, mehr eine Wahrscheinlichkeit als eine absolute Gewissheit. Sie glauben daran, wünschen sich, dass es so wäre, und entgegen ihrem eigenen Willen sagen sie sich: Was aber, wenn es nicht so ist? Über unsere Gegenwart haben wir Gewissheit, beschäftigen wir uns also zuerst mit ihr. Die Zukunft ergibt sich ja ohnehin ganz von selbst.

Und dann, so fragen sie sich weiter: Was ist denn eigentlich die Seele? Ist sie ein Punkt, ein Atom, ein Funke, eine Flamme? Wie fühlt sie? Wie sieht sie? Wie nimmt sie wahr? Die Seele besitzt für sie keine wirkliche Realität, sie ist nur eine Abstraktion. Die Menschen, die ihnen am Herzen liegen, in ihren Vorstellungen auf den Stand von Atomen reduziert, sind für sie sozusagen verloren und haben in ihren Augen nicht mehr die Eigenschaften, die sie für sie einst liebenswert machten. Sie begreifen weder die Liebe von einem Funken noch, dass man Liebe für einen solchen haben kann, und sind 36 nur wenig befriedigt, selbst in „Monaden“ (Grundelemente) umgewandelt zu werden. Daher die Rückkehr zum Positivismus des irdischen Lebens, das für sie etwas Greifbares hat. Die Zahl derer, die von solchen Erwägungen beeinflusst werden, ist sehr groß.


6. Ein anderer Grund für das Festhalten an den irdischen Dingen, sogar für diejenigen, die fest an das zukünftige Leben glauben, kommt von dem Eindruck, den sie aus dem Unterricht bewahren, den sie in ihrer Kindheit erhalten haben.

Das Bild, das die Religion vom Leben nach dem Tod beschreibt, ist – das muss man zugeben – weder sehr verführerisch noch besonders tröstlich. Auf der einen Seite erblickt man dort die verzerrten Grimassen der Verdammten, die in endlosen Qualen und Flammen ihre Verirrungen des Augenblicks sühnen. Für sie folgen die Jahrhunderte aufeinander, ohne Hoffnung auf Linderung oder Mitleid und, was noch erbarmungsloser ist, für die alle Reue ohne Wirkung bleibt. Auf der anderen Seite sieht man die unter der Last ihrer Leiden gequälten Seelen des Fegefeuers, die auf ihre Befreiung hoffen, durch den guten Willen der Lebenden, die für sie beten oder beten lassen, und nicht aufgrund ihrer eigenen Anstrengungen zur Weiterentwicklung. Diese zwei Gattungen machen die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung der anderen Welt aus. Darüber schwebt die sehr begrenzte Anzahl der Erwählten, die für die Ewigkeit eine beschauliche Glückseligkeit genießen. Diese ewige Nutzlosigkeit, die ohne Zweifel dem Nichts vorzuziehen ist, ist nicht weniger als eine überdrüssige Eintönigkeit. Auch sieht man in den Malereien, die die Seligen darstellen, Engelsgestalten, die eher Langeweile als wirkliches Glück ausstrahlen.

Dieser Zustand befriedigt weder Sehnsüchte noch die instinktive Vorstellung vom Fortschritt, die als einzige mit der reinen Freude verträglich erscheint. Man hat Mühe zu begreifen, wie der unwissende Urmensch, mit stumpfem Moralgefühl, allein dadurch, dass er die Taufe empfangen hat, auf gleicher Höhe stehen soll mit jemanden, der durch lange Jahre harter Arbeit zur höchsten Stufe des Wissens und der praktizierenden Moral gelangt ist. Es ist noch weniger begreiflich, dass ein in jungem Alter verstorbenes Kind, ehe es das Bewusstsein seiner selbst und seiner Handlungen hatte, die gleichen Vorrechte genießen soll, durch die bloße Tatsache einer feierlichen Handlung, an der sein Wille keinen Anteil hatte. Diese Gedanken hören nicht auf, die leidenschaftlichen Anhänger zu beschäftigen, auch wenn diese nicht wirklich darüber nachdenken.


7. Die Arbeit für den Fortschritt, die man auf der Erde vollbringt, soll ohne Wert für das zukünftige Glück sein. Die Leichtigkeit, mit der man glaubt, dieses Glück durch wenige äußerliche Handlungen zu erwerben, die Möglichkeit, es sogar für Geld zu kaufen, ohne ernsthafte Veränderung der Gesinnung und der Gewohnheiten, nehmen den Annehmlichkeiten der Welt ihren ganzen Wert. Mehr als ein Gläubiger sagt sich in seinem Innersten, dass seine Zukunft durch die Erfüllung gewisser Äußerlichkeiten gesichert ist oder auch durch Gaben nach seinem Tod, die ihn nichts kosten. Dadurch würde es überflüssig sein, sich irgendwelche Opfer oder Zwänge zum Vorteil anderer aufzuerlegen, wo doch jeder sein Heil erlangen kann, wenn er für sich allein arbeitet.

Sicherlich ist das nicht die Denkweise aller, da es große und schöne Ausnahmen gibt. Aber man kann nicht verhehlen, dass es die Mehrzahl ist, besonders der wenig aufgeklärten Massen, und dass die Vorstellung, die man sich darüber macht, wie man in der anderen Welt glücklich wird, und das Festhalten an den irdischen Gütern folglich den Egoismus fördern.


8. Fügen wir dem hinzu, dass alles an den kirchlichen Ritualen dabei mithilft, den Verlust des irdischen Lebens zu bedauern und sich vor dem Übergang von der Erde zum Himmel zu fürchten. Der Tod ist nur von düsteren Trauerfeierlichkeiten umgeben, die mehr Angst als Hoffnung hervorrufen. Wenn man den Tod darstellt, dann ist es immer unter einem abstoßenden Gesichtspunkt und nie in Form eines Schlafes für einen Übergang. All diese Sinnbilder halten die Sicht an der Zerstörung des Körpers wach und zeigen ihn als ein hässliches Skelett. Keines versinnbildlicht die Seele, die sich strahlend von ihren irdischen Banden löst. Der Übergang zu jener glücklicheren Welt ist nur von den Klagen der Überlebenden begleitet, als ob denen, die dahinscheiden, das größte Unglück widerfahren würde. Man sagt ihnen ein ewiges Lebewohl, als ob man sie niemals wiedersehen würde. Was man für sie bedauert, sind die fehlenden Freuden des Lebens auf der Erde, als ob sie keine größeren finden könnten. Was für ein Unglück, sagt man, zu sterben, wenn man jung, reich und glücklich ist und eine glänzende Zukunft vor sich hat! Die Vorstellung eines glücklicheren Lebens kommt ihnen kaum in den Sinn, weil sie dort keine Wurzeln hat. Alles trägt also dazu bei, Angst vor dem Tod einzuflößen, statt Hoffnung aufkeimen zu lassen. Der Mensch wird ohne Zweifel lange brauchen, bis er sich von diesen Vorurteilen frei macht. Aber er wird in dem Maße dahin gelangen, wie sein Glaube stärker wird und er sich eine gesündere Vorstellung vom geistigen Leben machen wird.


9. Der gewöhnliche Glaube versetzt die Seelen außerdem in Bereiche, die dem Gedanken kaum zugänglich sind, wo sie in gewisser Art den Hinterbliebenen fremd werden. Die Kirche selbst setzt zwischen ihnen und letzteren die unüberwindliche Barriere. Sie erklärt, dass alle Beziehungen abgebrochen werden und jegliche weitere Kommunikation unmöglich bleibt. Wenn sie in der Hölle sind, so ist alle Hoffnung für immer verloren, sie je wieder zu sehen, sofern man nicht selbst dorthin gelangt. Wenn sie unter den Auserwählten sind, dann sind sie von ihrer kontemplativen Glückseligkeit völlig in Anspruch genommen. All das baut zwischen den Toten und den Lebenden eine solche Distanz auf, dass man die Trennung als ewig ansieht. Deshalb zieht man es sogar vor, dass man die Menschen, die man liebt, lieber leidend bei sich auf der Erde hat, als sie sterben zu sehen und wären sie dadurch auch im Himmel. Und ist dann die Seele, die im Himmel ist, wirklich glücklich darüber, ihren Sohn, ihren Vater, ihre Mutter oder ihre Freunde auf ewig in der Hölle brennen zu sehen?