Lemaire
Vom Gerichtshof der Geschworenen von Aisne zum Tode verurteilt, am 31. Dezember 1857 hingerichtet und am 29. Januar 1858 angerufen
Anrufung.
Antwort: Ich bin hier.
Frage: Was empfinden Sie bei unserem Anblick?
Antwort: Scham. Frage: Haben Sie Ihr Bewusstsein bis zum letzten Augenblick behalten?
Antwort: Ja.
Frage: Waren Sie sich unmittelbar nach Ihrer Hinrichtung Ihrer neuen Existenz bewusst?
Antwort: Ich war in großer Verwirrung, aus der ich noch nicht heraus bin. Ich habe einen ungeheuren Schmerz verspürt und es schien mir, als ob ihn mein Herz erlitte. Ich sah am Fuße des Schafotts etwas rollen, von dem ich nicht weiß, was es war. Ich sah Blut fließen und mein Schmerz war nur noch stechender.
Frage: War es ein rein körperlicher Schmerz, ähnlich dem, den eine schwere Verletzung, zum Beispiel die Amputation eines Gliedes, verursachen würde?
Antwort: Nein, stellen Sie sich Gewissensbisse vor, einen großen seelischen Schmerz.
Frage: Wann haben Sie angefangen, diesen Schmerz zu fühlen?
Antwort: Sobald ich frei war.
Frage: Wurde der durch die Todesstrafe verursachte physische Schmerz vom Körper oder vom Geist empfunden?
Antwort: Der seelische Schmerz war in meinem Geist. Der Körper hat den physischen Schmerz gespürt, aber der getrennte Geist spürte noch die Nachwirkung davon.
Frage: Haben Sie Ihren verstümmelten Körper gesehen?
Antwort: Ich habe etwas Unförmiges gesehen, das ich anscheinend nicht verlassen hatte. Jedoch fühlte ich mich noch als ganz, ich war ich selbst.
Frage: Welchen Eindruck hat dieser Anblick auf Sie gemacht?
Antwort: Ich fühlte meinen Schmerz zu sehr; ich war darin verloren.
Frage: Ist es wahr, dass der Körper noch einige Augenblicke nach der Enthauptung lebt und dass der Hingerichtete sich seiner Gedanken bewusst ist?
Antwort: Der Geist zieht sich nach und nach zurück. Je mehr die materiellen Bande ihn in sich verstricken, umso langsamer erfolgt die Trennung.
Frage: Man will auf dem Gesicht einiger Hingerichteter den Ausdruck von Zorn bemerkt haben und Bewegungen, als ob sie sprechen wollten. Ist das die Folge einer Kontraktion der Nerven oder des Willens?
Antwort: Des Willens, denn der Geist hatte sich noch nicht zurückgezogen.
Frage: Welches war das erste Gefühl, das Sie beim Eintritt in Ihre neue Existenz hatten?
Antwort: Ein unerträgliches Leiden, eine Art stechende Reue, deren Ursache ich nicht kannte.
Frage: Haben Sie sich mit Ihren Komplizen, die zur gleichen Zeit wie Sie hingerichtet wurden, vereinigt gefunden?
Antwort: In Bezug auf unser Unglück. Unser Anblick ist eine ständige Qual. Jeder von uns wirft dem anderen sein Verbrechen vor.
Frage: Begegnen Sie Ihren Opfern?
Antwort: Ich sehe sie … sie sind glücklich ... ihr Blick verfolgt mich … ich fühle, wie er in die Tiefen meines Wesens eindringt ... vergeblich will ich ihm entfliehen.
Frage: Welches Gefühl haben Sie bei ihrem Anblick?
Antwort: Scham und Gewissensbisse. Ich habe die Opfer mit meinen eigenen Händen großgezogen und hasse sie erneut.
Frage: Was empfinden jene, wenn sie Sie sehen?
Antwort: Mitleid.
Frage: Tragen sie Hass und den Wunsch nach Rache in sich?
Antwort: Nein, ihre Wünsche verlangen von mir Sühne. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine schreckliche Qual es ist, jemandem, den man hasst, alles schuldig zu sein.
Frage: Bedauern Sie das irdische Leben?
Antwort: Ich bedaure nur meine Verbrechen. Wenn das Geschehene noch in meiner Hand läge, würde ich es nicht mehr begehen.
Frage: Lag die Neigung zum Bösen in Ihrer Natur oder wurden Sie durch die Umgebung, in der Sie lebten, dazu verleitet?
Antwort: Die Neigung zum Verbrechen lag in meiner Natur, denn ich war nur ein niederes Geistwesen. Ich wollte schnell aufsteigen, aber ich habe mehr verlangt, als meine Kräfte es zuließen. Ich habe mich stark geglaubt, habe eine schwere Prüfung gewählt und habe den Versuchungen zum Bösen nachgegeben.
Frage: Wenn man Ihnen gute Erziehungsgrundsätze gegeben hätte, hätte man Sie vom kriminellen Leben abbringen können?
Antwort: Ja, aber ich habe die Lebenslage gewählt, in der ich geboren bin.
Frage: Hätten Sie ein guter Mensch sein können?
Antwort: Ein schwacher Mensch, unfähig zum Guten wie zum Bösen. Ich konnte das Böse meiner Natur während meines Lebens korrigieren, aber ich konnte mich nicht erheben, das Gute zu tun.
Frage: Glaubten Sie zu Ihren Lebzeiten an Gott?
Antwort: Nein.
Frage: Man sagt, Sie hätten in der Todesstunde bereut, ist das wahr?
Antwort: Ich habe an einen rächenden Gott geglaubt ... Ich hatte Angst vor seiner Gerechtigkeit.
Frage: Ist Ihre Reue in diesem Augenblick aufrichtiger?
Antwort: Ach, gewiss, ich sehe, was ich getan habe.
Frage: Was denken Sie jetzt über Gott?
Antwort: Ich fühle ihn, aber ich verstehe ihn nicht.
Frage: Finden Sie die Strafe gerecht, die Ihnen auf Erden auferlegt worden ist?
Antwort: Ja.
Frage: Hoffen Sie, Verzeihung für Ihre Verbrechen zu erlangen?
Antwort: Ich weiß es nicht.
Frage: Wie hoffen Sie, diese zu sühnen?
Antwort: Durch neue Prüfungen, doch scheint mir, dass eine Ewigkeit zwischen ihnen und mir liegt.
Frage: Wo sind Sie jetzt?
Antwort: Ich bin in meinem Leiden.
Frage: Wir fragen Sie, an welcher Stelle Sie sind?
Antwort: In der Nähe des Mediums.
Frage: Da Sie hier sind, in welcher Gestalt würden Sie uns erscheinen, wenn wir Sie sehen könnten?
Antwort: In meiner körperlichen Gestalt, den Kopf vom Rumpf getrennt.
Frage: Könnten Sie uns erscheinen?
Antwort: Nein, lassen Sie mich!
Frage: Würden Sie uns bitte sagen, wie Sie aus dem Gefängnis von Montdidier entkommen sind?
Antwort: Ich weiß es nicht mehr … Mein Schmerz ist so groß, dass ich nur die Erinnerung an das Verbrechen habe. Lassen Sie mich.
Frage: Könnten wir Ihrem Schmerz irgendeine Linderung bringen?
Antwort: Wünschen Sie mir, dass die Sühne kommt!