3. Historische Hinweise
Um bestimmte Abschnitte der Evangelien gut zu verstehen, ist es notwendig die Bedeutung der vielen Worte zu kennen, die oft in den Texten angewandt sind und die den Zustand der Sitten und die jüdische Gesellschaft in jener Zeit charakterisieren. Diese Worte, die für uns nicht die gleiche Bedeutung haben, wurden oft falsch interpretiert und haben daher eine Art von Ungewissheit erzeugt. Das Verstehen ihrer Bedeutung erklärt außerdem den wahren Sinn von gewissen Grundsätzen, die auf den ersten Blick fremd erscheinen.
SAMARITER – Nach dem Schisma (Kirchenspaltung) der zehn Stämme, wurde Samaria die Hauptstadt des andersgläubigen Reiches Israels. Mehrmals zerstört und wiederaufgebaut ist sie unter der römischen Herrschaft der Verwaltungssitz Samarias geworden, eine der vier Gebietsteile Palästinas. Herodes, der Große genannt, hat sie mit prunkvollen Denkmälern verschönert und um Augustus zu gefallen, hat er ihr den Namen Augusta gegeben, auf Griechisch „Sébaste“.
Die Samariter führten fast immer Krieg mit den Königen Judäas. Eine tiefe Abneigung, beginnend mit der Zeit der Trennung, bestand zwischen den beiden Völkern ständig fort, die alle Formen der gegenseitigen Beziehungen vermieden. Um das Schisma (Kirchenspaltung) noch tiefer zu machen und nicht nach Jerusalem zur Feier der religiösen Feste gehen zu müssen, bauten sich die Samariter einen eigenen Tempel und führten einige Reformen ein. Sie erkannten nur den Pentateuch an, der das Gesetz Moses enthält, und lehnten alle anderen Bücher ab, die ihm später beigefügt wurden. Seine heiligen Bücher waren in hebräischen Schriftzeichen der höchsten Antike geschrieben. Für die orthodoxen Juden waren sie ketzerisch, deshalb wurden sie verachtet, verflucht und verfolgt. Der Antagonismus der beiden Völker hatte also als einzige Ursache die religiösen Meinungsverschiedenheiten, obwohl ihr Glauben den gleichen Ursprung hatte. Sie waren die Protestanten dieser Epoche.
Noch heute befinden sich Samariter in einigen Gebieten des Orients, insbesondere in Nablus und in Jaffa. Sie befolgen mit mehr Strenge das Gesetz Moses als die anderen Juden und sie heiraten nur unter sich.
NAZARENER – Der Name wurde im alten Gesetz den Juden gegeben, die ein Gelübde ablegten, sei es für das ganze Leben oder nur für einige Zeit, eine vollkommene Reinheit zu bewahren. Sie verpflichten sich zur Keuschheit, zur Abstinenz von alkoholischen Getränken und zur Erhaltung ihrer Haare. Samson, Samuel und Johannes der Täufer waren Nazarener.
Später gaben die Juden diesen Namen den Ersten Christen, in Anspielung auf Jesus aus Nazareth.
Dies war ebenfalls der Name von einer ketzerischen Sekte der ersten Jahrhunderte des christlichen Zeitalters, die ebenso wie die Ebioniten, von denen sie gewisse Grundlagen annahmen, die mosaischen Praktiken mit den christlichen Dogmen vermischten. Diese Sekte verschwand im vierten Jahrhundert.
ZÖLLNER – Man nannte so, im alten Rom, die Ritterpächter der staatlichen Gebühren, die Beauftragten zur Eintreibung der Steuern und Einkommen aller Art, sei es in Rom selbst oder in anderen Teilen des Reiches. Sie waren vergleichbar mit den allgemeinen Steuereinziehern (fermiers généraux et traitants) im alten Regime Frankreichs, und mit denjenigen, die noch in einigen Gebieten existieren. Die Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, ließen die Augen verschließen vor dem Reichtum, den sie erwarben, und der bei vielen die Erträge aus Erpressungen und anstößigen Gewinnen waren. Der Name Zöllner wurde später auf alle anderen ausgeweitet, die mit staatlichem Geld umgingen und auf ihre untergeordneten Agenten. Heute wird das Wort verächtlich benutzt, um gewissenlose Geschäftsmänner und Makler zu bezeichnen; manchmal bezeichnen wir jemanden als: „gierig wie ein Zöllner oder auch: reich wie ein Zöllner“, wenn sein Vermögen dubioser Herkunft ist.
Unter der römischen Herrschaft waren es die Steuern, die die Juden am schwersten hinnehmen konnten und die die meisten Verärgerungen unter ihnen verursachten. Sie riefen mehrere Revolten hervor, und es wurde daraus ein religiöses Problem gemacht, weil sie als gesetzwidrig angesehen wurden. Es bildete sich sogar eine mächtige Partei, angeführt von einem gewissen Judas, auch „Gaulonite“ genannt, der die Ablehnung der Steuer zum Prinzip erhob. Die Juden verabscheuten folglich die Steuer, und infolgedessen auch diejenigen, die mit der Steuereintreibung beauftragt waren. Dieses ist das Motiv ihrer Abneigung für die Zöllner aller Klassen, unter denen geschätzte Menschen sein konnten, aber die aufgrund ihres Amtes verachtet wurden, zusammen mit all den Menschen, mit denen sie verkehrten, alle wurden in die gleiche Ablehnung mit einbezogen. Die hochgestellten Juden glaubten ihren Ruf aufs Spiel zu setzen, wenn sie mit ihnen enge Beziehungen unterhielten.
GEBÜHRENEINNEHMER (STADTZÖLLNER) – Sie waren niedrige Finanzbeamte, die hauptsächlich beauftragt waren, die Gebühren für den Zutritt in die Städte einzukassieren. Ihre Aufgaben entsprachen mehr oder weniger denen der Zollbeamten und der Kassierer des Stadtzolls. Sie wurden ebenso wie alle anderen Zöllner abgelehnt. Aus diesem Grund findet man oft im Evangelium den Namen Zöllner, in der Bedeutung: Leute, die ein schlechtes Leben führen. Diese Benennung schloss nicht die Herumtreiber und skrupellosen Menschen mit ein; sie war ein Ausdruck des Verachtens, Synonym für Menschen schlechter Gesellschaft, unwürdig mit Menschen guter Gesellschaft zu verkehren.
PHARISÄER (aus dem Hebräischen „Parasch“ = Teilung, Trennung) – Die Tradition bildete einen wichtigen Bestandteil der jüdischen Theologie. Sie bestand aus der Sammlung der nach und nach gegebenen Interpretationen über die Bedeutung der Schriften, und die Abschnitte des Dogmas geworden sind. Dies war unter den Gelehrten Anlass für endlose Diskussionen, meistens über einfache Fragen von Worten oder Formen, ähnlich den theologischen Auseinandersetzungen und den Spitzfindigkeiten der Scholastik des Mittelalters. Daraus entstanden verschiedene Sekten, und jede gab vor, das Monopol der Wahrheit zu besitzen, und wie es fast immer geschieht, verabscheuten die einen die anderen.
Unter diesen Sekten war die einflussreichste die von den Pharisäern, mit Hillel * als Führer, ein jüdischer Doktor, geboren in Babylonien und Gründer einer berühmten Schule, an der man lehrte, dass der Glaube nur auf den Schriften gründet. Ihr Ursprung geht auf das Jahr 180 oder 200 vor Jesus Christus zurück. Die Pharisäer wurden in verschiedenen Epochen verfolgt, insbesondere unter „Hyrkanus“, dem obersten Kirchenfürst und König der Juden, den Königen von Syrien, Aristoboulos und Alexander, der letztere gab ihnen jedoch die Ehren und ihren Besitz wieder zurück und sie erlangten erneut die Macht, die sie behielten bis zum Niedergang von Jerusalem im Jahre 70 der christlichen Ära, eine Epoche, in der aufgrund der Zerstreuung der Juden ihr Name verschwand.
Die Pharisäer nahmen tatkräftig an den religiösen Auseinandersetzungen teil. Sie achteten streng auf die Äußerlichkeiten bei der Ausübung des Kults und der Feierlichkeiten, zeigten einen heftigen Eifer bei der Proselytenmacherei (Bekehrung der Heiden zum Judentum), waren Feinde der Neuerer und täusch ten bei alledem eine große Strenge der Prinzipien vor. Aber unter dem Anschein einer gewissenhaften Frömmigkeit versteckten sie ausschweifende Sitten, viel Hochmut und vor allem eine extreme Gier zu Herrschen. Die Religion war für sie eher ein Hilfsmittel, um ihre Ziele zu erreichen, als Gegenstand eines aufrichtigen Glaubens. Sie achteten nur auf den äußeren Schein, prahlten mit ihrer Tugend, und übten damit einen großen Einfluss auf das Volk aus, in dessen Augen sie für heilige Personen gehalten wurden; deshalb waren sie sehr mächtig in Jerusalem.
Sie glaubten, oder gaben es wenigstens vor, an die Vorsehung, an die Unsterblichkeit der Seele, an die Ewigkeit der Leiden und an die Auferstehung der Toten (Kap. 4; Nr. 4). Jesus, der vor allem die Schlichtheit und die Eigenschaften des Herzens schätzte, der im Gesetz den Geist, der belebt, dem Wort, das tötet, vorzog, bemühte sich während der Zeit seiner Mission, ihre Heuchelei zu entlarven, als Folge davon wurden sie zu seinen blutrünstigen Feinden. Aus diesem Grund sind sie mit dem Hohepriester in Verbindung getreten, um das Volk gegen Ihn aufzuwiegeln, mit dem Ziel, Ihn umkommen zu lassen.
SCHRIFTGELEHRTE – Der Name wurde anfangs den Staatssekretären der Könige Judäas und gewissen Verwaltern der jüdischen Armee gegeben. Aber später wurden insbesondere Gelehrte so bezeichnet, die das Gesetz Moses lehrten und es für das Volk interpretierten. Sie machten gemeinsame Sache mit den Pharisäern und teilten deren Prinzipien und Abneigung gegen die Neuerer. Jesus schließt sie deswegen in seine Ablehnung mit ein.
SYNAGOGE (aus dem Griechischen: „Sunagoguê“ = Versammlung, Kongregation) – Es existierte nur ein Tempel in Judäa, nämlich der des Salomons in Jerusalem, wo man die großen Feierlichkeiten der Religion zelebrierte. Alle Jahre pilgerten die Juden zu ihm anlässlich den wichtigen Feiern, wie die von Ostern, die der Gottesweihung und die des Laubhüttenfestes (Tabernakel). Zu diesen Anlässen machte Jesus mehrere Reisen dorthin. Die anderen Städte hatten keine Tempel, sondern Synagogen, Gebäude, in denen sich die Juden am Tag des Sabbats versammelten, um ihre öffentlichen Gebete unter der Leitung der Ältesten, der Schriftgelehrten und der Gesetzeshüter zu sprechen. Dort hielt man auch Vorlesungen aus den Heiligen Büchern, die man erklärte und kommentierte; jeder konnte daran teilnehmen; deshalb lehrte Jesus, ohne Priester zu sein, am Tag des Sabbats in den Synagogen.
Seit der Zerstörung Jerusalems und der Zerstreuung der Juden dienen die Synagogen in den Städten, wo sie wohnen, als Tempel für die Feier des Gottesdienstes.
SADDUZÄER – Jüdische Sekte, die ungefähr im Jahr 248 vor Christus entstand, deren Name von ihrem Gründer Sadoc herstammt. Die Sadduzäer glaubten weder an die Unsterblichkeit der Seele noch an die Auferstehung noch an die guten und bösen Engel. Indessen glaubten sie an Gott, aber erwarteten nichts nach dem Tod; sie dienten Ihm nur zwecks weltlicher Belohnungen, die, aus ihrer Sicht, sich auf seine Vorsehung beschränkte, daher war für sie die Befriedigung der Sinne das Hauptziel des Lebens. Was die Schriften anbelangt, hielten sie sich an die Texte des alten Gesetzes, sie duldeten weder die Tradition noch irgendeine andere Auslegung; sie stellten die guten Taten und die reine und einfache Ausführung des Gesetzes über die äußerlichen Ausübungen des Kultes. Wie man sieht, waren sie die Materialisten, die Deisten und sinnlichen Menschen der Epoche. Diese Sekte war nicht sehr groß, aber zu ihr zählten wichtige Persönlichkeiten, und sie wurde eine politische Partei, ständiger Gegner der Pharisäer.
ESSENER oder ESSÄER – Eine jüdische Sekte, die ungefähr im Jahr 150 vor Christus gegründet wurde, zur Zeit der Makkabäer, deren Mitglieder in einem klosterähnlichen Gebäude wohnten und unter sich eine Art moralische und religiöse Vereinigung bildeten. Sie unterschieden sich durch sanfte Sitten und strenge Tugenden, sie lehrten die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die Unsterblichkeit der Seele und glaubten an die Auferstehung. Sie lebten im Zölibat, verurteilten die Sklaverei und den Krieg, verwalteten ihren Besitz gemeinschaftlich und widmeten sich der Landwirtschaft. Im Gegensatz zu den lüsternen Sadduzäern, die die Unsterblichkeit leugneten und zu den, bei den äußerlichen Bräuchen strengen Pharisäern, wobei deren Tugenden nur zum Schein vorhanden waren, nahmen sie an keinen Aus-einandersetzungen teil, die diese beiden Sekten trennten. Ihre Lebensart ähnelte jener der ersten Christen, und die Grundsätze der Moral, zu denen sie sich bekannten, brachten einige Menschen dazu zu glauben, dass Jesus vor dem Beginn Seiner öffentlichen Mission dieser Sekte angehörte. Es ist gewiss, dass Er sie gekannt haben müsste, aber nichts beweist, dass Er sich ihr angeschlossen hatte und alles, was man darüber schreibt, ist hypothetisch.**
THERAPEUTEN (aus dem Griechischen: thérapeutai, abgeleitet von dem Verb therapeuein = dienen, heilen; das bedeutet: Diener Gottes oder Heilkundiger) – Sie waren jüdische Sektierer aus der Zeit Christi und hatten sich hauptsächlich in Alexandria, Ägypten, niedergelassen. Sie hatten intensive Beziehungen zu den Essenern, deren Grundsätze sie verkündeten; und wie Letztere, gaben sie sich der Ausübung aller Tugenden hin. Ihre Nahrung war von einer extremen Einfachheit; sie gelobten das Zölibat, die Kontemplation und das einsame Leben, sie bildeten einen echten religiösen Orden. Philon, jüdischer platonischer Philosoph aus Alexandria, war der Erste, der die Therapeuten erwähnte; er stellte sie als eine jüdische Sekte vor. Eusebio, der Heilige Jeronimus und andere Väter der Kirche glaubten, dass sie Christen waren. Juden oder Christen, offensichtlich ist, dass sie, ebenso wie die Essener, das Bindeglied zwischen dem Judentum und dem Christentum bilden.
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* Verwechselt nicht diesen Hillel, der die Sekte der Pharisäer gründete, mit seinem Namensvetter, der zweihundert Jahre später gelebt hat, und der die religiösen und sozialen Grundsätze von einem ganzen System aus Toleranz und Liebe festlegte; ein System, das heute unter Hellenismus bekannt ist. (Von der portugiesischen Übersetzung der FEB übernommen)
** Der Tod Jesu, angeblich von einem Essener geschrieben, ist ein völlig unechtes Werk, geschrieben um einer Meinung zu dienen, und das in sich selbst den Beweis seiner modernen Herkunft enthält.