DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Unterweisungen der geistigen Welt

Verzeihung der Beleidigungen


14. Wie oft soll ich meinem Bruder verzeihen? Du sollst ihm nicht nur siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal vergeben. Hier ist eins von den Worten Jesus, die eure Intelligenz am stärksten treffen und zu euren Herzen am lautesten sprechen sollen. Vergleicht diese barmherzigen Worte mit denen aus dem einfachsten, zusammenfassenden Gebet, gleichzeitig so groß in seinem Streben, das Jesus Seinen Jüngern lehrte, und ihr werdet immer den gleichen Gedanken finden. Jesus, der Gerechte per Exzellenz, antwortet Petrus: Du wirst aber verzeihen, grenzenlos; du wirst jede Beleidigung verzeihen, so oft sie dir zugefügt wird; du wirst deinen Mitmenschen diese Selbstlosigkeit lehren, welche uns gegen die Angriffe, schlechtes Benehmen und Beleidigungen unverwundbar macht. Du wirst sanft und demütig im Herzen sein und niemals deine Sanftmut messen; schließlich wirst du das machen, was du wünschst, das es der himmlische Vater für dich tut. Vergibt ER dir nicht andauernd? Zählt ER vielleicht, wie oft ER dir deine Fehler vergeben hat?


Hört also auf die Antwort von Jesus und wendet sie bei euch selbst an, so wie Petrus; vergebt; macht Gebrauch von der Nachsicht, seid barmherzig, großzügig, sogar verschwenderisch mit eurer Liebe. Gebt, denn der Herr wird euch geben. Verzeiht, denn der Herr wird euch verzeihen. Erniedrigt euch, denn der Herr wird euch erheben. Demütigt euch, denn der Herr wird euch an Seiner rechten Seite sitzen lassen.


Geht, meine Geliebten, studiert und kommentiert diese Worte, die ich euch im Auftrag dessen sage, der aus der Höhe des himmlischen Glanzes Seinen Blick immer auf euch richtet und mit Liebe die undankbare Aufgabe fortsetzt, die Er vor 18 Jahrhunderten * angefangen hat. Verzeiht euren Nächsten genauso, wie man euch verzeihen soll. Falls ihre Taten euch persönlich benachteiligt haben, gibt es hier ein weiteres Motiv, um nachsichtig zu sein, denn das Verdienst der Verzeihung steht im Verhältnis zur Schwere des Übels. Ihr würdet bei der Vergebung der Fehler eurer Nächsten keinen Verdienst erlangen, wenn sie euch nur geringfügige Kränkungen zugefügt hätten.


Spiritisten, vergesst nie, dass die Vergebung der Beleidigungen, geschehen durch Worte oder auch Taten, nie leere Worte sein dürfen. Wenn ihr sagt, dass ihr Spiritisten seid, dann seid es auch. Vergesst das Böse, das man euch angetan hat und denkt an nichts anderes als an das Gute, das ihr machen könnt. Derjenige, der diesen Weg eingeschlagen hat, soll sich nicht von ihm entfernen, auch nicht in Gedanken, denn ihr seid für eure Gedanken verantwortlich, und Gott kennt sie. Macht also, dass ihr von allen Gefühlen des Grolls frei seid. Gott weiß, was in der Tiefe des Herzens eines jeden ist. Glücklich also derjenige, der jede Nacht beim Einschlafen sagen kann: Ich habe nichts gegen meinen Nächsten. (Siméon, Bordeaux, 1862)




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* Anmerkung der Übersetzerin: Aus heutiger Sicht sind es 21 Jahrhunderte.



15. Den Feinden zu vergeben heißt, um Vergebung für sich selbst zu bitten; den Freunden zu vergeben bedeutet, ihnen einen Beweis der Freundschaft zu geben; die Beleidigung zu vergeben zeigt, dass man besser wird. Vergebt, meine Freunde, damit Gott euch vergibt, denn, wenn ihr hart, anspruchsvoll und unbeugsam seid; wenn ihr auch gegen eine leichte Beleidigung Unnachsichtigkeit übt, warum möchtet ihr dann, dass Gott vergisst, dass ihr jeden Tag ein großes Bedürfnis der Nachsicht habt? Oh! Wehe demjenigen, der sagt: „Ich werde niemals vergeben“ denn er spricht seine eigene Verurteilung aus. Wer von euch weiß schon, wenn ihr in euer Inneres hineinschaut, ob ihr nicht selbst der Angreifer wart? Wer weiß, ob bei diesem Kampf, der mit einem Nadelstich angefangen hat und mit einem Bruch endete, nicht ihr den ersten Schlag ausgeführt habt? Wer weiß, ob euch nicht ein beleidigendes Wort herausgerutscht ist? Wer weiß, ob ihr die nötige Milderung angewendet habt? Gewiss hat euer Gegner Unrecht, wenn er sich zu empfindlich zeigt, aber das ist für euch ein Grund nachsichtig zu sein, um nicht selbst den Tadel zu verdienen, den ihr an ihn richtet. Angenommen, ihr wärt wirklich in einer Situation beleidigt worden, wer sagt, ob ihr nicht die Angelegenheit mit Repressalien vergiftet habt und in einen ernsthaften Streit habt ausarten lassen, was man leicht hätte vergessen können? Falls es von euch abhängig war, die Folgen zu verhindern und ihr es nicht getan habt, seid ihr schuldig. Nehmen wir schließlich an, dass ihr euch durchaus keinen Vorwurf zu machen habt, dann wird euer Verdienst größer sein, wenn ihr euch gnädig zeigt.


Es gibt aber zwei sehr verschiedene Arten zu vergeben: Es ist die Vergebung über die Lippen und die Vergebung aus dem Herzen. Sehr viele Menschen sagen über ihrem Gegner: „Ich vergebe ihm“, während sie innerlich eine heimliche Freude über das Übel empfinden, das ihm widerfährt, und sagen zu sich selbst, dass er bekommt, was er verdient hat. Wie viele sagen: „Ich vergebe“ und fügen hinzu: „aber ich werde mich nie versöhnen; ich möchte ihn in meinem ganzen Leben nicht wiedersehen“. Ist das die Vergebung gemäß dem Evangelium? Nein, die echte Vergebung, die christliche Vergebung ist diejenige, die einen Schleier über die Vergangenheit wirft. Diese ist die einzige, die berücksichtigt wird, denn Gott gibt sich nicht mit dem äußerem Schein zufrieden: ER erforscht die Tiefe der Herzen und die verborgensten Gedanken. Man imponiert IHM nicht mit Worten und leeren Versprechungen. Das vollständige und unumschränkte Vergessen der Beleidigungen ist den großen Seelen eigen. Der Groll ist immer ein Zeichen der Herabwürdigung und Unterlegenheit. Vergesst nicht, dass man die wahre Vergebung mehr an den Taten als an den Worten erkennt. (Apostel Paulus, Lyon, 1861)


Die Nachsicht


16. Spiritisten, heute möchten wir über die Nachsicht zu euch sprechen, dieses so sanfte, brüderliche Gefühl, das alle Leute für ihre Mitmenschen haben sollten, von dem jedoch nur sehr wenige Gebrauch machen.


Die Nachsicht sieht die Fehler der andern nicht, oder, falls sie diese sieht, vermeidet sie darüber zu reden, sie zu verbreiten. Im Gegenteil verheimlicht sie diese, damit sie nur ihr allein bekannt sind, und falls die Böswilligkeit diese entdeckt, hat sie immer eine Entschuldigung dafür bereit, um sie zu verschleiern, d.h. eine glaubhafte, seriöse Entschuldigung, und nicht solche, die den Schein haben, die Fehler zu mildern, sie aber mit heimtückischer Geschicklichkeit hervorhebt.


Die Nachsicht beschäftigt sich nie mit den bösen Handlungen der andern, es sei denn, um ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen, allerdings wird sie sich bemühen, die Folgen dieser Handlungen soweit wie möglich zu mildern. Sie macht keine anstößigen Bemerkungen, hat keine Vorwürfe auf den Lippen, sondern nur Ratschläge, meistens taktvolle. Wenn ihr Kritik übt, welche Konsequenz soll man aus euren Worten ziehen? Dass ihr, die ihr tadelt, nicht getan hättet, was ihr tadelt, und dass ihr besser seid als der Schuldige. Oh, Menschen! Wann werdet ihr eure eigenen Herzen, Gedanken und Taten beurteilen, ohne euch mit dem zu beschäftigen, was eure Mitmenschen machen? Wann werdet ihr eure strengen Augen nur über euch selbst öffnen?


Seid also streng zu euch und nachsichtig den andern gegenüber. Denkt an DENJENIGEN, DER in letzter Instanz urteilt; DER die verborgenen Gedanken jedes Herzens sieht und somit die Fehler entschuldigt, die ihr oft tadelt oder DER verurteilt, was ihr entschuldigt, weil ER das Motiv aller Handlungen kennt, und dass ihr, die ihr so laut schreit: „Bannfluch!“ vielleicht schwerwiegendere Fehler begangen habt.


Said nachsichtig, meine Freunde, denn die Nachsicht zieht an, beruhigt, richtet wieder auf, während die Unnachsichtigkeit entmutigt, entfernt und aufregt. (Joseph, Schutzgeist, Bordeaux, 1863)


17. Seid nachsichtig mit den Fehlern der andern, welcher Art sie auch seien. Beurteilt mit Strenge nur eure eigenen Taten und der Herr wird an euch die Nachsicht anwenden, wie ihr sie bei den andern angewendet habt.


Unterstützt die Starken, ermutigt sie zur Beharrlichkeit. Stärkt die Schwachen und zeigt ihnen die Güte Gottes, der die kleinste Reue hochschätzt. Zeigt jedem den Engel der Reue, der seine weißen Flügel über die Fehler der Menschheit ausbreitet und so diese vor den Augen desjenigen verschleiert, der das Unreine nicht sehen kann. Versteht die unendliche Barmherzigkeit eures Vaters und vergesst nie, IHM mit euren Gedanken und insbesondere mit euren Handlungen zu sagen: „Vergib uns unsere Fehler, wie auch wir denjenigen vergeben, die uns beleidigt haben“. Versteht die Bedeutung dieser erhabenen Worte richtig; nicht nur der Wortlaut ist bewundernswert, sondern auch die Lehre, die sie enthalten.


Und um was bittet ihr den Herrn, wenn ihr um Vergebung fleht? Nur um das Vergessen eurer Fehler? Ein Vergessen, das euch nichts einbringt, denn falls Gott sich darauf beschränkt, eure Fehler zu vergessen, würde ER euch nicht bestrafen, aber auch nicht belohnen. Die Belohnung kann nicht der Preis für das Gute sein, das man nicht getan hat und noch weniger für das Böse, das man getan hat, selbst wenn es inzwischen vergessen wurde. Indem ihr um Vergebung für eure Übertretung bittet, bittet ihr um die Gunst SEINER Gnade, um nicht wieder zurückzufallen, und die nötige Kraft, um einen neuen Weg einschlagen zu können, den Weg der Ergebenheit und Liebe, auf dem ihr die Wiedergutmachung der Reue hinzufügen könnt.


Wenn ihr euren Mitmenschen vergebt, gebt euch nicht damit zufrieden, den Schleier des Vergessens über ihre Fehler auszubreiten, denn dieser Schleier ist fast immer für eure Augen durchsichtig. Bringt ihnen die Liebe gleichzeitig mit der Vergebung, tut ihnen das Gleiche, um das ihr euren himmlischen Vater bittet, für euch zu tun. Ersetzt den Zorn, der befleckt, durch die Liebe, die läutert. Predigt mit guten Beispielen diese aktive, unermüdliche Nächstenliebe, die Jesus euch gelehrt hat. Predigt sie, wie Er es getan hat, solange Er auf der Erde lebte, sichtbar für die physischen Augen und wie Er sie noch unaufhörlich predigt, seitdem Er nur noch für die geistigen Augen sichtbar ist. Folgt diesem göttlichen Vorbild; tretet in Seine Fußstapfen; sie werden euch zu einem Zufluchtsort führen, wo ihr Ruhe nach dem Kampf finden werdet. Tragt alle euer Kreuz wie Er und ersteigt mühsam aber mutig, euren Leidensweg, auf dem Gipfel wartet die Verherrlichung. (Johannes, Bischof von Bordeaux, 1862)


18. Liebe Freunde, seid streng mit euch selber und nachsichtig mit der Schwäche der andern. Dieses ist eine Ausübung der heiligen Nächstenliebe, die sehr wenige Menschen beachten. Ihr alle habt schlechte Neigungen zu besiegen, Fehler zu korrigieren, Gewohnheiten zu verändern. Ihr alle habt eine mehr oder weniger schwere Bürde abzulegen, um den Berggipfel des Fortschritts zu erklimmen. Warum dann so einen Scharfblick für den Nächsten und so eine Blindheit für euch selbst? Wann werdet ihr aufhören, in dem Auge eures Bruders den verletzenden Splitter zu bemerken, ohne den Balken wahrzunehmen, der euch blind macht und der euch von einem Sturz zum nächsten laufen lässt? Glaubt den Geistwesen, euren Geschwistern. Jeder Mensch, der so hochmütig ist zu glauben, größer zu sein als seine inkarnierten Mitmenschen – in Tugenden und Verdiensten – ist unvernünftig und schuldig und Gott wird ihn am Tag SEINER Gerechtigkeit bestrafen. Das wahre Merkmal der Nächstenliebe ist die Bescheidenheit und die Demut, die darin bestehen, die Fehler der andern nur oberflächlich zu sehen, und die sich bemüht, das Gute und Tugendhafte in ihnen zur Geltung zu bringen. Auch wenn das menschliche Herz ein Abgrund der Korruption ist, es gibt immer in irgendeiner seiner verborgensten Falten den Keim von einigen guten Gefühlen, den lebendigen Funken der geistigen Essenz.


Spiritismus, tröstende und segnende Lehre, wie glücklich sind die, die dich kennen und die aus der heilsamen Lehre der Geister des Herrn Nutzen ziehen. Für jene ist der Weg beleuchtet und auf der ganzen Strecke können sie diese Worte klar lesen, die ihnen das Mittel zeigen, um das Ziel zu erreichen: Ausübung der Nächstenliebe, Nächstenliebe des Herzens, Nächstenliebe zum Mitmenschen wie zu sich selbst. Kurzum: Nächstenliebe zu allen und die Liebe zu Gott über alles, weil die Liebe zu Gott alle Pflichten zusammenfasst, und weil es unmöglich ist, Gott wirklich zu lieben, ohne die Nächstenliebe zu praktizieren, aus der ER ein Gesetz für alle Geschöpfe gemacht hat. (Dufêtre, Bischof von Nevers, Bordeaux)


19. Da niemand vollkommen ist, ergibt sich daraus, dass auch niemand das Recht hat, seinen Nächsten zu tadeln?



Gewiss nicht, denn jeder von euch soll für den Fortschritt von allen arbeiten, und vor allem für diejenigen, die eurem Schutz anvertraut wurden; das ist aber gefühlvoll zu tun, aus einer guten Absicht heraus und nicht - wie es meistens gemacht wird - aus Spaß am Verleumden. In diesem letzten Fall ist der Tadel eine Bosheit; im ersten eine Pflicht, die die Nächstenliebe möglichst rücksichtsvoll zu erfüllen befiehlt. Und selbst den Tadel, den man andern zuerkennt, soll man gleichzeitig an sich selbst richten und sich fragen, ob man ihn nicht auch verdient. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)


20. Ist es tadelnswert, die Fehler der andern zu beobachten, wenn sich daraus kein Nutzen für sie ergeben kann, auch wenn man sie nicht bekannt macht?


Alles hängt von der Absicht ab. Gewiss ist es nicht verboten, das Böse zu sehen, wenn das Böse existiert. Es gäbe sogar Nachteile, nur das Gute überall zu sehen. Diese Täuschung würde dem Fortschritt schaden.


Das Unrecht liegt darin, diese Beobachtung zum Nachteil des Nächsten zu nutzen, indem man ihn bei den andern in Verruf bringt. Es wäre noch tadelnswerter, dies aus einem Gefühl der Boshaftigkeit zu machen und der Freude darüber, die andern bei einem Fehler zu ertappen. Es ist ganz anders, wenn man einen Schleier über das Übel wirft, um es vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem man sich darauf beschränkt, es für den eigenen Nutzen zu beobachten, d.h. sich damit zu befassen, um bei sich zu vermeiden, was man bei den andern tadelt. Im Übrigen, ist diese Beobachtung nicht auch nützlich für den Moralisten? Wie könnte er die Fehler der Menschheit beschreiben, wenn er sie nicht an diesen Beispielen erforscht? (Sankt Ludwig, Paris, 1860)


21. Gibt es Fälle, wo es notwendig wäre, das Übel der andern aufzudecken?


Diese Frage ist sehr heikel; und genau hier ist es notwendig, an die gut verstandene Nächstenliebe zu appellieren. Wenn die Unvollkommenheit einer Person nur ihr selbst schadet, ist es nicht nötig, diese bekanntzumachen; aber falls sie für andere schädlich sein kann, ist es notwendig, das Interesse der Mehrheit vorzuziehen, statt des Einzelnen. Je nach den Umständen kann es eine Pflicht sein, die Heuchelei und die Lüge zu entlarven; denn es ist besser, dass ein Einzelner stürzt, als dass viele von ihm betrogen und Opfer werden. In solchen Fällen ist es notwendig, die Summe der Vor- und Nachteile abzuwägen. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)