DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Die Nachsicht

16. Spiritisten, heute möchten wir über die Nachsicht zu euch sprechen, dieses so sanfte, brüderliche Gefühl, das alle Leute für ihre Mitmenschen haben sollten, von dem jedoch nur sehr wenige Gebrauch machen.


Die Nachsicht sieht die Fehler der andern nicht, oder, falls sie diese sieht, vermeidet sie darüber zu reden, sie zu verbreiten. Im Gegenteil verheimlicht sie diese, damit sie nur ihr allein bekannt sind, und falls die Böswilligkeit diese entdeckt, hat sie immer eine Entschuldigung dafür bereit, um sie zu verschleiern, d.h. eine glaubhafte, seriöse Entschuldigung, und nicht solche, die den Schein haben, die Fehler zu mildern, sie aber mit heimtückischer Geschicklichkeit hervorhebt.


Die Nachsicht beschäftigt sich nie mit den bösen Handlungen der andern, es sei denn, um ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen, allerdings wird sie sich bemühen, die Folgen dieser Handlungen soweit wie möglich zu mildern. Sie macht keine anstößigen Bemerkungen, hat keine Vorwürfe auf den Lippen, sondern nur Ratschläge, meistens taktvolle. Wenn ihr Kritik übt, welche Konsequenz soll man aus euren Worten ziehen? Dass ihr, die ihr tadelt, nicht getan hättet, was ihr tadelt, und dass ihr besser seid als der Schuldige. Oh, Menschen! Wann werdet ihr eure eigenen Herzen, Gedanken und Taten beurteilen, ohne euch mit dem zu beschäftigen, was eure Mitmenschen machen? Wann werdet ihr eure strengen Augen nur über euch selbst öffnen?


Seid also streng zu euch und nachsichtig den andern gegenüber. Denkt an DENJENIGEN, DER in letzter Instanz urteilt; DER die verborgenen Gedanken jedes Herzens sieht und somit die Fehler entschuldigt, die ihr oft tadelt oder DER verurteilt, was ihr entschuldigt, weil ER das Motiv aller Handlungen kennt, und dass ihr, die ihr so laut schreit: „Bannfluch!“ vielleicht schwerwiegendere Fehler begangen habt.


Said nachsichtig, meine Freunde, denn die Nachsicht zieht an, beruhigt, richtet wieder auf, während die Unnachsichtigkeit entmutigt, entfernt und aufregt. (Joseph, Schutzgeist, Bordeaux, 1863)


17. Seid nachsichtig mit den Fehlern der andern, welcher Art sie auch seien. Beurteilt mit Strenge nur eure eigenen Taten und der Herr wird an euch die Nachsicht anwenden, wie ihr sie bei den andern angewendet habt.


Unterstützt die Starken, ermutigt sie zur Beharrlichkeit. Stärkt die Schwachen und zeigt ihnen die Güte Gottes, der die kleinste Reue hochschätzt. Zeigt jedem den Engel der Reue, der seine weißen Flügel über die Fehler der Menschheit ausbreitet und so diese vor den Augen desjenigen verschleiert, der das Unreine nicht sehen kann. Versteht die unendliche Barmherzigkeit eures Vaters und vergesst nie, IHM mit euren Gedanken und insbesondere mit euren Handlungen zu sagen: „Vergib uns unsere Fehler, wie auch wir denjenigen vergeben, die uns beleidigt haben“. Versteht die Bedeutung dieser erhabenen Worte richtig; nicht nur der Wortlaut ist bewundernswert, sondern auch die Lehre, die sie enthalten.


Und um was bittet ihr den Herrn, wenn ihr um Vergebung fleht? Nur um das Vergessen eurer Fehler? Ein Vergessen, das euch nichts einbringt, denn falls Gott sich darauf beschränkt, eure Fehler zu vergessen, würde ER euch nicht bestrafen, aber auch nicht belohnen. Die Belohnung kann nicht der Preis für das Gute sein, das man nicht getan hat und noch weniger für das Böse, das man getan hat, selbst wenn es inzwischen vergessen wurde. Indem ihr um Vergebung für eure Übertretung bittet, bittet ihr um die Gunst SEINER Gnade, um nicht wieder zurückzufallen, und die nötige Kraft, um einen neuen Weg einschlagen zu können, den Weg der Ergebenheit und Liebe, auf dem ihr die Wiedergutmachung der Reue hinzufügen könnt.


Wenn ihr euren Mitmenschen vergebt, gebt euch nicht damit zufrieden, den Schleier des Vergessens über ihre Fehler auszubreiten, denn dieser Schleier ist fast immer für eure Augen durchsichtig. Bringt ihnen die Liebe gleichzeitig mit der Vergebung, tut ihnen das Gleiche, um das ihr euren himmlischen Vater bittet, für euch zu tun. Ersetzt den Zorn, der befleckt, durch die Liebe, die läutert. Predigt mit guten Beispielen diese aktive, unermüdliche Nächstenliebe, die Jesus euch gelehrt hat. Predigt sie, wie Er es getan hat, solange Er auf der Erde lebte, sichtbar für die physischen Augen und wie Er sie noch unaufhörlich predigt, seitdem Er nur noch für die geistigen Augen sichtbar ist. Folgt diesem göttlichen Vorbild; tretet in Seine Fußstapfen; sie werden euch zu einem Zufluchtsort führen, wo ihr Ruhe nach dem Kampf finden werdet. Tragt alle euer Kreuz wie Er und ersteigt mühsam aber mutig, euren Leidensweg, auf dem Gipfel wartet die Verherrlichung. (Johannes, Bischof von Bordeaux, 1862)


18. Liebe Freunde, seid streng mit euch selber und nachsichtig mit der Schwäche der andern. Dieses ist eine Ausübung der heiligen Nächstenliebe, die sehr wenige Menschen beachten. Ihr alle habt schlechte Neigungen zu besiegen, Fehler zu korrigieren, Gewohnheiten zu verändern. Ihr alle habt eine mehr oder weniger schwere Bürde abzulegen, um den Berggipfel des Fortschritts zu erklimmen. Warum dann so einen Scharfblick für den Nächsten und so eine Blindheit für euch selbst? Wann werdet ihr aufhören, in dem Auge eures Bruders den verletzenden Splitter zu bemerken, ohne den Balken wahrzunehmen, der euch blind macht und der euch von einem Sturz zum nächsten laufen lässt? Glaubt den Geistwesen, euren Geschwistern. Jeder Mensch, der so hochmütig ist zu glauben, größer zu sein als seine inkarnierten Mitmenschen – in Tugenden und Verdiensten – ist unvernünftig und schuldig und Gott wird ihn am Tag SEINER Gerechtigkeit bestrafen. Das wahre Merkmal der Nächstenliebe ist die Bescheidenheit und die Demut, die darin bestehen, die Fehler der andern nur oberflächlich zu sehen, und die sich bemüht, das Gute und Tugendhafte in ihnen zur Geltung zu bringen. Auch wenn das menschliche Herz ein Abgrund der Korruption ist, es gibt immer in irgendeiner seiner verborgensten Falten den Keim von einigen guten Gefühlen, den lebendigen Funken der geistigen Essenz.


Spiritismus, tröstende und segnende Lehre, wie glücklich sind die, die dich kennen und die aus der heilsamen Lehre der Geister des Herrn Nutzen ziehen. Für jene ist der Weg beleuchtet und auf der ganzen Strecke können sie diese Worte klar lesen, die ihnen das Mittel zeigen, um das Ziel zu erreichen: Ausübung der Nächstenliebe, Nächstenliebe des Herzens, Nächstenliebe zum Mitmenschen wie zu sich selbst. Kurzum: Nächstenliebe zu allen und die Liebe zu Gott über alles, weil die Liebe zu Gott alle Pflichten zusammenfasst, und weil es unmöglich ist, Gott wirklich zu lieben, ohne die Nächstenliebe zu praktizieren, aus der ER ein Gesetz für alle Geschöpfe gemacht hat. (Dufêtre, Bischof von Nevers, Bordeaux)