DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Die Pflicht

7. Die Pflicht ist die moralische Verpflichtung des Menschen, zuerst sich selbst gegenüber und danach gegenüber den andern. Die Pflicht ist das Gesetz des Lebens. Wir finden sie in den winzigsten Begebenheiten wie auch in den erhabenen Handlungen. Ich möchte hier nur über die moralische Pflicht sprechen und nicht über die Pflicht, die die Berufe auferlegen.


In der Reihenfolge der Gefühle ist die Pflicht sehr schwer zu erfüllen, weil sie im Gegensatz zu den Verlockungen der Interessen und des Herzens steht. Ihre Siege haben keine Zeugen und ihre Niederlagen erhalten keine Bestrafung. Die innere Pflicht des Menschen ist seinem freien Willen überlassen; der Stachel des Gewissens, dieser Hüter über die innerste Rechtschaffenheit, warnt ihn und unterstützt ihn, aber er zeigt sich sehr oft dem Trugschluss der Leidenschaften gegenüber unfähig. Die Pflicht des Herzens, treu befolgt, erhöht den Menschen. Wie kann man sie aber genau beschreiben? Wo beginnt sie? Wo endet sie? Die Pflicht beginnt genau an dem Punkt, wo ihr das Glück oder die Ruhe eures Nächsten bedroht; sie endet an der Grenze, da, wo ihr nicht wünscht, dass jemand sie - im Hinblick auf euch - überschreitet.


Gott hat, hinsichtlich der Leiden, alle Menschen gleich erschaffen; Kleine oder Große, Unwissende oder Gebildete, alle leiden unter den gleichen Ursachen, damit jeder das Böse, das er anrichten kann, vernünftig beurteilt. Dieses Kriterium besteht nicht für das Gute, das unbegrenzt vielfältiger in seiner Art und Weise ist. Die Gleichheit hinsichtlich des Schmerzes ist eine erhabene Vorsehung Gottes, der möchte, dass SEINE Kinder, durch die allgemeine Erfahrung gebildet, nicht etwas Böses tun, und dann zu behaupten, dessen Auswirkungen nicht zu kennen.


Die Pflicht ist die praktische Zusammenfassung aller moralischen Aktionen; sie ist eine Tapferkeit der Seele, die den Ängsten des Kampfes entgegentritt. Die Pflicht ist streng und sanft; bereit sich vor den verschiedenen Schwierigkeiten zu beugen, bleibt aber unbeugsam vor ihren Versuchungen. Der Mensch, der seine Pflicht erfüllt, liebt Gott mehr als die Menschheit, und die Menschheit mehr als sich selbst. Er ist zugleich Richter und Sklave in seiner eigenen Sache.


Die Pflicht ist das schönste Kleinod der Vernunft; sie geht aus dieser hervor, wie das Kind aus seiner Mutter. Der Mensch muss die Pflicht lieben, nicht, weil sie ihn vor den Leiden des Lebens schützt, denn denen kann sich die Menschheit nicht entziehen, sondern weil sie der Seele die nötige Kraft für ihre Entwicklung gibt.


Die Pflicht wächst und glänzt in erhabener Art und Weise in jeder höheren Entwicklungsstufe der Menschheit. Die moralische Verpflichtung des Menschen gegenüber Gott hört nie auf. Sie muss die Tugenden des Ewigen widerspiegeln, der keinen unvollkommenen Versuch zulässt, weil ER möchte, dass die Schönheit SEINES vor IHM glänzt. (Lazarus, Paris, 1863)