Die Freundlichkeit und die Sanftmut
6. Das Wohlwollen gegenüber seinen Mitmenschen, die Frucht der Nächstenliebe, erzeugt Freundlichkeit und Sanftmut, die ihr Ausdruck sind. Jedoch soll man nicht immer dem äußeren Schein trauen. Die Erziehung und die Nutzung der Welt können den Firnis dieser Eigenschaften geben. Wie viele gibt es, deren täuschende Gutmütigkeit nichts anderes ist als eine Maske für das Äußere, als eine Kleidung, deren kalkulierter Schnitt die verheimlichten Missbildungen versteckt. Die Welt ist voller solcher Leute, die das Lächeln auf den Lippen haben und das Gift im Herzen; die sanftmütig sind, sofern sie nichts kränkt, die aber bei der kleinsten Verärgerung beißen; deren Zunge vergoldet ist, wenn sie einem gegenüberstehen, sich jedoch in einen vergifteten Speer verwandelt, wenn sie hinter einem stehen.
Zu dieser Klasse gehören auch jene Menschen, die draußen gutherzig, aber zu Hause Tyrannen sind, die ihre Familie und ihre Untergebenen unter der Last ihres Hochmuts und Despotismus leiden lassen. Sie scheinen sich von dem Zwang entledigen zu wollen, den sie sich anderswo auferlegten. Da sie nicht wagen, ihre Autorität auf Fremde auszuüben, die sie zurechtweisen würden, wollen sie zumindest von denjenigen, die ihnen nicht widerstehen können, gefürchtet werden. Ihre Eitelkeit freut sich, sagen zu können: „Hier befehle ich und hier wird mir gehorcht“; ohne darüber nachzudenken, dass sie hinzufügen könnten: „Und ich werde gehasst“.
Es genügt nicht, dass von den Lippen Milch und Honig tropfen, wenn das Herz daran unbeteiligt ist; dies ist Heuchelei. Derjenige, dessen Freundlichkeit und Sanftmut nicht heuchlerisch sind, widerspricht sich nie. Er ist derselbe vor der Welt und in der Intimität. Er weiß außerdem, dass man den Menschen mit dem äußeren Schein täuschen kann; Gott kann man aber nicht täuschen.