3. Jesus fasste die ganze Lehre der Moral in der Nächstenliebe und Demut zusammen, d.h. in den zwei Tugenden, die im Gegensatz zum Egoismus und zum Stolz stehen. In all seinen Lehren verweist Er auf diese zwei Tugenden, als diejenigen, die zur ewigen Glückseligkeit führen: – Selig, sagte Er, sind die geistig Armen, d.h. die Demütigen, denn ihrer ist das Himmelreich; selig sind die, die reinen Herzens sind; selig sind die, die sanftmütig und friedfertig sind; selig sind die, die barmherzig sind. Liebt euren Nächsten wie euch selbst; tut dem andern das, was ihr möchtet, das man es euch tut; liebt eure Feinde; vergebt die Beleidigungen, wenn ihr wollt, dass euch vergeben wird; tut Gutes, ohne zu prahlen; beurteilt euch selbst, bevor ihr die andern beurteilt. – Demut und Nächstenliebe, das ist es, was Er stets empfohlen hat und wovon Er selbst ein Beispiel gibt. Unermüdlich bekämpft Er Stolz und Egoismus. Und Er beschränkt sich nicht darauf, die Nächstenliebe zu empfehlen, Er setzt sie eindeutig und in klaren Worten als unumschränkte Bedingung der Glückseligkeit voraus.
In der Schilderung, die Jesus vom Jüngsten Gericht gibt, muss man, wie bei vielen anderen Dingen, das Bildliche vom Allegorischen trennen. Den Menschen, zu denen Er sprach und die noch nicht fähig waren, rein spirituelle Zusammenhänge zu verstehen, musste Er materielle Bilder aufzeigen, die ergreifend waren und beeindrucken konnten. Um besser verstanden zu werden, durfte Er sich bezüglich der Form nicht zu weit von den damals bestehenden Anschauungen entfernen; deshalb überlässt Er der Zukunft die wahre Interpretation Seiner Worte und der Themen, die Er noch nicht klar ausdrücken konnte. Aber neben diesem allegorischen und figurativen Teil der Schilderung gibt es einen dominierenden Grundgedanken: – Die Glückseligkeit, die auf den Gerechten wartet, und das Unglück, das für den Bösen reserviert ist.
Aber, was sind die Entscheidungsgründe für das Urteil des Jüngsten Gerichts? Worauf bezieht sich die Untersuchung? Fragt der Richter danach, ob diese oder jene Formalität erfüllt worden ist, ob diese oder jene äußere Handlung mehr oder weniger durchgeführt wurde? Nein, er wird einzig und allein danach fragen: ob man die Nächstenliebe praktiziert hat, und er wird sein Urteil folgendermaßen aussprechen: „Ihr, die ihr euren Geschwistern geholfen habt, geht nach rechts. Ihr, die ihr ihnen gegenüber hart gewesen seid, geht nach links. Wird er sich nach der Orthodoxie des Glaubens erkundigen? Macht Er irgendeinen Unterschied zwischen denen, die auf die eine oder die andere Art und Weise glauben? Nein, denn Jesus setzt den als ketzerisch angesehenen Samariter, der den Nächsten liebt, über den Rechtgläubigen, dem es an Nächstenliebe mangelt. Er sieht daher die Nächstenliebe nicht nur als eine der Voraussetzungen zur Rettung, sondern als die einzige Voraussetzung. Wenn noch andere zu erfüllen wären, hätte Er auf sie hingewiesen. Wenn Er die Nächstenliebe an die erste Stelle unter den Tugenden setzt, bedeutet das, dass sie selbstverständlich alle anderen beinhaltet: die Demut, die Sanftmut, das Wohlwollen, die Nachsicht, die Gerechtigkeit usw., und auch, weil die Nächstenliebe die absolute Verneinung des Stolzes und des Egoismus ist.