DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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KAPITEL XXIII
Seltsame Moral

• Wer nicht seinen Vater und seine Mutter hasst • Vater, Mutter und Kinder verlassen • Überlasst es den Toten, ihre Toten zu begraben• Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern die Trennung

Wer nicht seinen Vater und seine Mutter hasst

1. Eine große Volksmenge ging mit Jesus, und Er wandte sich um und sprach zu ihnen: „Wenn jemand zu mir kommt und seinen Vater und seine Mutter, seine Frau und seine Kinder, seine Brüder und Schwestern, und sogar sein eigenes Leben nicht hasst, kann nicht mein Jünger sein. Und wer sein Kreuz nicht trägt und mir nicht folgt, kann nicht mein Jünger sein. So auch wer unter euch nicht allem entsagt, was er hat, der kann ebenfalls nicht mein Jünger sein. (Lukas, Kap. XIV, 25-27 und 33)

2. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. (Matthäus, Kap. X, 37)

3. Gewisse Worte, sehr wenige übrigens, die aus Jesu Mund kommend wirklich sehr befremdlich klingen, bilden einen so seltsamen Kontrast, dass man instinktiv ihren wortgemäßen Sinn ablehnt, wobei die Erhabenheit Seiner Lehre nicht darunter leidet. Da diese Worte nach Seinem Tod niedergeschrieben wurden – keines der Evangelien wurde zu Seinen Lebzeiten geschrieben – ist es gestattet anzunehmen, dass in diesem Fall der tiefere Sinn Seiner Gedanken nicht richtig wiedergegeben wurde, oder – was noch wahrscheinlicher ist – dass der ursprüngliche Sinn bei der Übersetzung von der einen in eine andere Sprache einige Änderungen erlitten hat. Es genügt, wenn ein Fehler ein erstes Mal gemacht wurde, um bei der Wiedergabe wiederholt zu werden, wie man das so oft bei historischen Fakten sieht.

Das Wort hassen, in diesem Satz vom Evangelist Lukas: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter hasst“, ist so ein Fall. Kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, Jesus dieses Wort zuzuschreiben. Es wäre deshalb überflüssig, darüber zu diskutieren und noch weniger zu versuchen, es zu rechtfertigen. Es wäre notwendig zu wissen, ob Er es ausgesprochen hat, und falls dies bejaht werden kann, ob in der Sprache, in der Er sich äußerte, dieses Wort die gleiche Bedeutung wie in unserer Sprache hatte. Der Abschnitt vom Evangelist Johannes: „Wer sein Leben in dieser Welt hasst, bewahrt es für das ewige Leben“, drückt gewiss nicht die Meinung aus, die wir ihm beimessen.

Die hebräische Sprache war nicht reich und viele Worte hatten mehrere Bedeutungen. So ist es zum Beispiel mit dem Wort, dass in der Genesis die Phasen der Schöpfung bezeichnet und zugleich benutzt wurde, um irgendeinen Zeitabschnitt und die Zeit für eine vollständige Umdrehung der Erde zu bezeichnen. Daher wurde es später mit dem Wort Tag übersetzt, hieraus entstand dann der Glaube, dass die Welt ein Werk von sechs Mal vierundzwanzig Stunden war. Ebenso geschah es mit dem Wort, das zugleich ein Kamel und ein Seil bezeichnete, weil die Seile aus Kamelhaaren hergestellt wurden, und deswegen wurde es in der Allegorie des Nadelöhrs, mit dem Wort Kamel übersetzt (siehe Kap. XVI, Nr. 2). *

Man muss daher die Sitten und den Charakter der Völker berücksichtigen, die das besondere Wesen ihrer Sprache beeinflussen. Ohne diese Kenntnis entgeht einigen Worten ihr wahrer Sinn. Das gleiche Wort kann von einer Sprache in die andere übersetzt eine mehr oder weniger energische Bedeutung haben. Ein Wort kann in einer Sprache eine Beleidigung oder eine Gotteslästerung sein, und unbedeutend in einer anderen, gemäß der Bedeutung, die man ihm beimisst. In einer gleichen Sprache verlieren einige Wort ihren Wert durch die Jahrhunderte. Daher kommt es, dass eine streng genommene buchstäbliche Übersetzung nicht immer den Gedanken richtig wiedergibt, und um genau zu sein, ist es manchmal notwendig, nicht die entsprechenden Worte zu benutzen, sondern andere, gleichbedeutende oder Umschreibungen.

Diese Bemerkungen sind sehr wesentlich für die Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere der Evangelien. Wenn man das Umfeld nicht berücksichtigt, in dem Jesus lebte, läuft man Gefahr, sich in der Bedeutung einiger Ausdrücke und Tatsachen zu irren, infolge der Gewohnheit, die andern mit sich selbst gleichzusetzen. Aus diesem Grund ist es also nötig, von dem Wort Hass die moderne Bedeutung zu verwerfen, als gegensätzlich zum Wesen der Lehre Jesus (siehe auch Kapitel XIV, Nr. 5 und folgende).


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* Non odit auf Latein, Kai oder misei auf Griechisch bedeutet nicht hassen, sondern weniger lieben. Was das griechische Verb misein ausdrückt, sagt noch besser das hebräische Verb, dass Jesus gebraucht haben soll. Es bedeutet nicht nur hassen, sondern weniger lieben, nicht so stark lieben, ebenso stark wie einen anderen. In dem syrischen Dialekt, von dem man sagt, dass Jesus ihn am häufigsten gebrauchte, ist diese Bedeutung noch stärker. Es ist in diesem Sinn, dass es in der Genesis benutzt wird (Kap. XXIX, 30-31): „Und Jakob liebte auch Rachel mehr als Lia, und Jehova, als er sah, dass Lia gehasst wurde …“. Es ist offenkundig, dass der wahre Sinn weniger geliebt bedeutete; so muss dies übersetzt werden. In vielen anderen hebräischen Stellen, insbesondere den syrischen, wird das gleiche Verb im Sinne von: nicht so stark lieben wie einen anderen, und man würde einen widersprüchlichen Sinn mit „hassen“ übersetzen, was eine andere ganz deutliche Bedeutung hat. Der Text des heiligen Matthäus beseitigt im Übrigen jegliche Schwierigkeit. (Anmerkung von M. Pezzani).


Vater, Mutter und Kinder verlassen

4. Jeder, der um meines Namens Willen sein Haus oder seine Brüder und Schwestern oder seinen Vater und seine Mutter oder seine Frau und seine Kinder oder seine Äcker verlassen hat, der wird alles hundertfach zurückerhalten und das ewige Leben ererben. (Matthäus, Kap. XIX, 29)

5. Da sagte Petrus zu Ihm: „Sieh, was uns betrifft, haben wir unser Eigentum verlassen und sind Dir nachgefolgt.“ – Jesus antwortete ihnen: „Wahrlich, ich sage euch, dass niemand um des Reiches Gottes Willen sein Haus oder seinen Vater und seine Mutter oder seine Brüder und Schwestern oder seine Frau und Kinder verlässt, der nicht in dieser Welt viel mehr empfängt, und in den zukünftigen Jahrhunderten das ewige Leben.“ (Lukas, Kap. XVIII, 28-30)

6. Ein anderer sagte zu Ihm: „Herr, ich werde Dir nachfolgen, zuvor jedoch erlaube mir über alles zu verfügen, was sich in meinem Haus befindet.“ Jesus sprach zu ihm: „Jeder, der die Hand am Pflug hat und zurückblickt, ist nicht geeignet für das Reich Gottes.“ (Lukas, Kap. IX, 61, 62)

Ohne über die Worte zu diskutieren, soll man hier den Gedanken suchen, der offensichtlich folgender war: „Die Interessen des zukünftigen Lebens überwiegen alle Interessen und alle menschlichen Betrachtungen, weil dieser Gedanke mit dem Wesen der Lehre Jesu übereinstimmt, während der Gedanke einer Ablehnung der Familie die Verneinung seiner Lehre wäre.

Übrigens, haben wir nicht die Anwendung dieser Grundsätze vor Augen, indem wir die Interessen und die familiären Zuneigungen für das Vaterland opfern? Tadelt man einen Sohn, der seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister, seine Frau und seine eigenen Kinder verlässt, um sein Land zu verteidigen? Erkennt man ihm im Gegenteil nicht ein großes Verdienst an, sich den Annehmlichkeiten seines Heimes, der Wärme der Freundschaften zu entreißen, um eine Pflicht zu erfüllen? Es gibt also Pflichten, die wichtiger sind als andere. Verpflichtet nicht das Gesetz die Tochter dazu, ihre Eltern zu verlassen, um ihrem Ehemann zu folgen? In der Welt wimmelt es von Fällen, wo die schmerzhaftesten Trennungen notwendig sind; aber die Zuneigungen zerbrechen deshalb nicht daran. Die Entfernung vermindert weder den Respekt noch die Fürsorge, die man den Eltern schuldet, auch nicht die Liebe zu seinen Kindern. Man sieht, dass diese Worte, auch wenn sie wortwörtlich interpretiert werden – abgesehen von dem Wort hassen – keine Verneinung des Gebotes sind, das vorschreibt, dass man seinen Vater und seine Mutter ehren soll, auch nicht das Gefühl der väterlichen Liebe, und um so weniger noch, wenn man sie ihrem Sinn nach versteht. Die übertriebene Formulierung zielte darauf ab, aufzuzeigen, wie zwingend die Pflicht war, sich um das zukünftige Leben zu kümmern. Sie müssen aber weniger schockierend gewesen sein für ein Volk und in einer Epoche, wo – infolge der herrschenden Sitten – die Familienbande schwächer waren als in einer moralisch fortschrittlicheren Zivilisation. Diese Bande, die bei primitiven Völkern schwächer waren, verstärkten sich mit der Entwicklung der Sensibilität und des moralischen Verhaltens. Die Trennung als solche ist notwendig für den Fortschritt, sowohl für die Familien als auch für die Rassen, sie degenerieren, wenn es keine Vermischungen gibt; wenn sich die einen nicht mit den andern vermischen. Das ist ein Naturgesetz, das ebenso im Interesse des moralischen als auch des physischen Fortschritts ist.

Diese Dinge sind hier nur vom irdischen Gesichtspunkt her betrachtet worden. Der Spiritismus lässt sie uns von einem höheren Standpunkt aus betrachten, er zeigt uns auf, dass die wahren Bande der Zuneigung jene des Geistes und nicht die des Körpers sind und dass diese Bande weder durch Trennung noch durch den Tod des Körpers zerstört werden und dass sie sich im geistigen Leben durch die Reinigung des Geistes noch verstärken. Eine tröstende Wahrheit, die uns große Kraft gibt, um die Schicksalsschläge des Lebens zu ertragen. (Siehe Kap. IV, Nr. 18 und Kap. XIV, Nr. 8)

Überlasst es den Toten, ihre
Toten zu begraben

7. Er sprach zu einem anderen: „Folge mir!“ Und dieser antwortete Ihm: „Herr, erlaube mir, zuvor noch meinen Vater zu begraben.“ – Jesus erwiderte ihm: „Überlass es den Toten, ihre Toten zu begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.“ (Lukas, Kap. IX, 59, 60)

8. Was können diese Worte bedeuten: „Überlass es den Toten, ihre Toten zu begraben?“ Die vorhergehenden Betrachtungen zeigen zuerst, dass sie in dem Moment als sie gesprochen wurden, keinen Tadel für den ausdrückten konnten, der es als eine Pflicht der Kindesliebe betrachtete, seinen Vater zu begraben. Sie beinhalten eine tiefsinnige Bedeutung, die nur eine vollständigere Kenntnis des geistigen Lebens verständlich machen kann.

Das geistige Leben ist nämlich das wahre Leben; es ist das normale Leben des Geistes. Seine irdische Existenz ist nur vorübergehend und vergänglich, sie ist eine Art Tod, wenn man sie mit der Pracht und den Aktivitäten des geistigen Lebens vergleicht. Der Körper ist nichts anderes als eine grobe Bekleidung, das den Geist vorübergehend umhüllt; eine wahrhafte Kette, die ihn an die Scholle der Erde fesselt, und der Geist fühlt sich glücklich, wenn er wieder davon befreit ist. Die Ehrfurcht, die man den Toten gegenüber hat, wendet sich nicht an die Materie, sondern durch die Erinnerung an den abwesenden Geist. Sie ist derjenigen ähnlich, die man für Dinge hat, die ihm gehörten, die er berührte und die diejenigen, die ihn lieben, als Reliquie behalten. Dies ist es, was jener Mann nicht von sich aus verstehen konnte. Jesus lehrte ihn dies, indem Er sagte: „Sorgt euch nicht um den Körper, sondern denkt vielmehr an den Geist. Geht und verkündet das Reich Gottes; geht hin und sagt den Menschen, dass ihre Heimat nicht die Erde ist, sondern der Himmel, denn nur dort ist das wahre Leben.“

Ich bin nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern die Trennung

9. Denkt nicht, dass ich gekommen sei, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Sohn mit seinem Vater zu entzweien, die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und des Menschen Feinde werden die eigenen Hausgenossen sein. (Matthäus, Kap. X, 34-36)

10. Ich bin gekommen, um Feuer auf der Erde zu entfachen, und ich wünsche mir sehr, dass es schon brenne. Ich muss durch eine Taufe getauft werden, und mich drängt es sehr, dass sie vollzogen wird!

Glaubt ihr, dass ich gekommen sei, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, ich versichere euch, dass es im Gegenteil die Trennung ist; denn wenn von heute an fünf Personen in einem Haus sein werden, werden sich die einen mit den anderen entzweien: drei gegen zwei und zwei gegen drei. Der Vater wird mit dem Sohn in Zwietracht leben und der Sohn mit dem Vater, die Mutter mit der Tochter und die Tochter mit der Mutter, die Schwiegermutter mit der Schwiegertochter und die Schwiegertochter mit der Schwiegermutter. (Lukas, Kap. XII, 49-53)

11. Kann es möglich sein, dass Jesus, der die Verkörperung der Sanftmut und der Güte war; der nie aufhörte die Nächstenliebe zu predigen, gesagt hätte: “Ich bin nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert; ich bin gekommen, um den Sohn vom Vater zu trennen, den Ehemann von der Ehefrau; ich bin gekommen, um Feuer auf der Erde zu entfachen, und ich wünsche mir sehr, dass es schon brenne“? Stehen diese Worte nicht im offenkundigen Widerspruch zu seiner Lehre? Ist es nicht eine Gotteslästerung, Ihm die Sprache eines blutrünstigen und zerstörerischen Eroberers zuzuschreiben? Nein, es gibt weder Gotteslästerung noch Widerspruch bei diesen Worten, denn es war wirklich Er, der sie ausgesprochen hat, und sie bezeugen Seine große Weisheit. Nur die Form, ein bisschen zweideutig, drückt nicht deutlich Seinen Gedanken aus, was dazu veranlasst, dass man sich hinsichtlich Seines wahren Sinnes irren kann. Wortwörtlich genommen, würden sie dazu tendieren, Seine friedliche Sendung in eine andere der Störung und Zwietracht zu verwandeln; eine unsinnige Folgerung, die der gesunde Menschenverstand zurückweist, denn Jesus konnte sich nicht widersprechen (Siehe Kap. XIV, Nr. 6).

12. Jede neue Idee stößt gezwungenermaßen auf Widerstand und es gibt keine einzige, die sich ohne Kämpfe durchgesetzt hätte. In solchen Fällen steht der Widerstand immer im Verhältnis zur Wichtigkeit der vorgesehenen Ergebnisse, denn je größer sie ist, desto mehr verletzt sie die vorhandenen Interessen. Wenn sie bekanntermaßen falsch ist und keine Konsequenzen zu befürchten hat, beunruhigt sich niemand und man lässt sie passieren, in der Gewissheit, dass sie keine Lebenskraft hat. Wenn sie aber wahr ist; wenn sie auf einer soliden Grundlage beruht, wenn sie Zukunft hat, dann warnt eine verborgene Vorahnung ihre Gegner davor, dass es sich um eine Gefahr, sowohl für sie, als auch für die Ordnung der Dinge handelt, für deren Aufrechterhaltung sie sich einsetzen, deshalb greifen sie diese neue Idee und auch ihre Anhänger an.

Das Ausmaß der Wichtigkeit und der Ergebnisse einer neuen Idee zeigt sich daher in den Gefühlen, die ihr Erscheinen verursacht, in der Stärke der Opposition, die sie hervorruft, und im Grad und der Beharrlichkeit des Zorns ihrer Gegner.

13. Jesus kam, um eine Lehre zu verkünden, welche die Missbräuche, die die Pharisäer, die Schriftgelehrten und die Priester Seiner Zeit trieben, schon in ihren Fundamenten untergraben würde. Deshalb ließen sie Ihn sterben, in dem Glauben, dass sie die Idee vernichten würden, wenn sie den Mann töteten. Aber die Idee überlebte, weil sie wahr war, und verbreitete sich, weil sie den Vorsehungen Gottes entsprach. Hervorgegangen aus einem kleinen verborgenen Dorf Judäas, errichtete sie ihre Flagge in der eigentlichen Hauptstadt der heidnischen Welt, in der Gegenwart ihrer erbitterten Gegner, vor jenen, die das größte Interesse daran hatten, sie zu bekämpfen, weil sie den jahrhundertealten Glauben umstieß, an dem viele, mehr aus Interesse als aus Überzeugung, festhielten. Hier warteten auf die Apostel die härtesten Kämpfe. Die Opfer waren unzählig, aber die Idee wuchs immer weiter und stieg triumphierend daraus hervor, weil sie, als die Wahrheit, über ihre Vorgängerinnen siegte.

14. Es ist anzumerken, dass das Christentum gerade zu der Zeit aufkam, als sich das Heidentum im Niedergang befand und sich gegen die Erkenntnisse der Vernunft sträubte. Man praktizierte es noch der Form halber, aber der Glaube daran war verschwunden; nur das persönliche Interesse hielt das Heidentum aufrecht. Das persönliche Interesse ist allerdings hartnäckig, es lässt sich nicht von Tatsachen überzeugen, es wird umso gereizter, je entschiedener die Argumente sind, die sich ihm entgegenstellen, um ihm seine Fehler aufzeigen. Es weiß genau, dass es sich im Irrtum befindet, wird aber nicht davon berührt, denn der wahre Glaube ist nicht in dessen Seele. Was dieses Interesse am meisten fürchtet, ist das Licht der Aufklärung, das den Blinden die Augen öffnet. Der Irrtum ist ihm nützlich, deshalb klammert es sich daran und verteidigt ihn.

Hatte nicht auch Sokrates eine Lehre herausgegeben, die bis zu einem gewissen Grad der Lehre Christi entspricht? Warum hat sie sich zu jener Zeit, bei einem der intelligentesten Völker der Erde, nicht durchgesetzt? Weil die Zeit dafür noch nicht gekommen war. Er hat auf einen unvorbereiteten Boden gesät, denn das Heidentum war noch nicht genug niedergegangen. Christus bekam die Ihm von Gott übertragene Mission zu einem günstigen Zeitpunkt. Nicht alle Menschen Seiner Zeit waren den christlichen Ideen gewachsen, wie es notwendig gewesen wäre, aber es gab eine allgemeine Eignung, sie aufzunehmen, da man begann, die Leere zu spüren, die die gewöhnlichen Glauben in der Seele hinterlassen. Sokrates und Platon hatten den Zugang zu diesem Weg geöffnet und für die Geister vorbereitet. (Siehe Anleitung, Absatz IV, Sokrates und Platon – Vorläufer der christlichen Idee und des Spiritismus.)

15. Unglücklicherweise konnten sich die Anhänger der neuen Lehre nicht über die Interpretation der Worte des Meisters einigen, die meistens unter Allegorien und Sinnbildern verborgen waren. Daher sind daraus von Anfang an zahlreiche Sekten entstanden, die alle vorgaben, im Besitz der ausschließlichen Wahrheit zu sein; und achtzehn Jahrhunderte genügten nicht, um sie zu einigen. Diese Sekten, indem sie das Wichtigste der göttlichen Gebote vergaßen: Die Liebe, die Brüderlichkeit und die Nächstenliebe, die Jesus als Eckstein seines und als ausdrückliche Bedingung zur Rettung bezeichnet hatte, verfluchten sich gegenseitig und die einen fielen über die anderen her. Die Stärkeren erdrückten die Schwächeren, erstickten sie im Blut, mit der Folterung und in den Flammen der Scheiterhaufen. Die Christen, Sieger über das Heidentum, wurden von Verfolgten zu Verfolgern. Mit Eisen und Feuer stellten sie das Kreuz des unbefleckten Lammes in den zwei Welten auf. Es ist eine bewiesene Tatsache, dass die religiösen Kriege die grausamsten waren und mehr Opfer gefordert haben, als die politischen Kriege, und dass in keinem anderen so viele Taten der Grausamkeit und der Barbarei begangen wurden.

Liegt die Schuld daran in der Lehre Jesu? Gewiss nicht, denn sie verurteilt deutlich alle Gewalt. Hat Jesus irgendwann zu Seinen Jüngern gesagt: „Geht, tötet, massakriert, verbrennt diejenigen, die nicht das glauben, was ihr glaubt“? Nein, im Gegenteil, denn Er sagte zu ihnen: „Alle Menschen sind Geschwister und Gott ist überaus barmherzig; liebt euren Nächsten, liebt eure Feinde, tut Gutes denjenigen, die euch verfolgen“. Er sagte ihnen weiterhin: „Wer mit dem Schwert tötet, wird durch das Schwert umkommen“. Die Verantwortung dafür liegt keinesfalls in der Lehre Jesus, sondern bei denjenigen, die sie falsch interpretiert haben und aus ihr ein Instrument zur Befriedigung ihrer Leidenschaft gemacht haben; bei denjenigen, die diese Worte Jesu verkannt haben: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“.

Jesus, in Seiner tiefen Weisheit, sah im Voraus was geschehen würde; aber diese Dinge waren unvermeidbar, weil sie der Niedrigkeit der menschlichen Natur angehörten, die sich nicht so plötzlich verändern konnte. Es war nötig, dass das Christentum diese lange und grausame Prüfung von achtzehn Jahrhunderten * durchlief, um seine Stärke zu zeigen; denn trotz allem Bösen, das in seinem Namen begangen wurde, ist das Christentum daraus rein hervorgegangen. Das Christentum wurde nie in Frage gestellt.

Der Tadel fiel immer auf diejenigen zurück, die es missbraucht haben. Bei jeder Handlung der Intoleranz sagte man immer: „Wenn das Christentum besser verstanden und praktiziert würde, so würde dies nicht geschehen“.


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* Anmerkung der Übersetzerin: Aus heutiger Sicht sind es 21 Jahrhunderte.


16. Als Jesus sagte: „Glaubt nicht, dass ich gekommen sei, um Frieden zu bringen, sondern die Trennung“, war Sein Gedanke folgender: „Glaubt nicht, dass meine Lehre sich friedlich durchsetzen wird. Sie wird blutige Kämpfe mit sich bringen, für die mein Name zum Vorwand genommen wird, weil die Menschen mich nicht verstanden haben oder mich nicht verstehen wollten. Die Brüder und Schwestern, durch ihren Glauben getrennt, werden ihre Schwerter – einer gegen den anderen – ziehen und die Trennung wird unter den Mitgliedern einer gleichen Familie herrschen, die nicht den gleichen Glauben haben. Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, um sie von den Fehlern und Vorurteilen zu säubern, so wie man Feuer auf ein Feld legt, um die Unkräuter zu vernichten, und ich wünsche mir sehr, dass es sich entzündet, damit die Säuberung schneller erfolgt, weil aus diesem Konflikt die Wahrheit siegreich hervorgehen wird. Dem Krieg wird der Frieden folgen; dem Hass der Parteien die universelle Brüderlichkeit; der Finsternis des Fanatismus das Licht des aufgeklärten Glaubens. Dann, wenn das Feld bereitet sein wird, werde ich euch den Tröster senden, den Geist der Wahrheit, der alle Dinge wiederherstellen wird, d.h. indem Er den wahren Sinn meiner Worte bekannt machen wird, den die aufgeklärteren Menschen dann endlich verstehen können, und dem Bruderkrieg, der die Kinder desselben Gottes spaltet, ein Ende setzen wird. Schließlich, müde von einem aussichtslosen Kampf, der nichts anderes als Verwüstung verursacht und der die Verwirrung bis in den Schoß der Familien trägt, werden die Menschen erkennen, worin ihre wahren Interessen bestehen hinsichtlich dieser und der anderen Welt. Sie werden erkennen, auf welcher Seite sich die Freunde und auf welcher die Feinde ihrer Ruhe befinden. Alle werden dann unter der gleichen Flagge Zuflucht finden: Jener der Nächstenliebe, und die Dinge werden auf der Erde wiederhergestellt werden, gemäß der Wahrheit und den Grundsätzen, die ich euch gelehrt habe.“

17. Der Spiritismus ist in der richtigen Zeit gekommen, um die Versprechen Jesu zu verwirklichen. Er kann dies allerdings nicht tun, ohne die Missbräuche zu bekämpfen. Wie Jesus, begegnet der Spiritismus auf seinem Weg dem Hochmut, dem Egoismus, dem Ehrgeiz, der Gier und dem blinden Fanatismus, die, bis an den Rand des Abgrundes getrieben, noch versuchen, ihm den Weg zu versperren, ihm Hindernisse entgegenzustellen und ihn zu verfolgen. Darum ist auch der Spiritismus gezwungen zu kämpfen; aber die Zeit der Kämpfe und blutigen Verfolgungen ist vorbei. Die Kämpfe, die er ertragen muss, sind rein moralischer Natur und das Ende davon ist ganz nah. Die ersten Kämpfe dauerten Jahrhunderte, die jetzigen werden sich kaum einige Jahre hinziehen, denn das Licht, anstatt nur aus einer einzigen Quelle zu entspringen, bricht aus allen Punkten des Globus hervor und wird die Augen der Blinden früher öffnen.

18. Diese Worte Jesu sollen hinsichtlich des Zorns – den Er voraussah – verstanden werden, den Seine Lehre hervorrufen würde; den vorübergehenden Konflikten, die die Konsequenz davon waren; die Kämpfe, die sie durchzustehen hätte, bevor sie sich festigt, so wie es auch mit den Hebräern geschah, bevor sie in das Gelobte Land eintraten, und nicht aus einer geplanten Absicht ihrerseits, um Unordnung und Verwirrung zu säen. Das Böse musste von den Menschen herrühren und nicht von Jesus. Er war wie der Arzt, der kam, um zu heilen und dessen Arzneimittel eine heilsame Krise dadurch verursachten, indem sie die gefährlichen Launen des Kranken aufrüttelten.