3. Wenn die Liebe zu den Nächsten der Grundsatz der Nächstenliebe ist, so ist die Feinde zu lieben, seine erhabene Anwendung, denn diese Tugend ist einer der größten Siege, die über den Egoismus und den Hochmut errungen werden können.
Im Allgemeinen wird der Sinn des Wortes „Liebe“ in diesem Zusammenhang missverstanden. Jesus meint mit diesen Worten durchaus nicht, dass man seinem Feind gegenüber gleich zärtlich sein soll, wie zu seinem Bruder, seiner Schwester oder zu einem Freund. Die Zärtlichkeit setzt Vertrauen voraus. Man kann demjenigen kein Vertrauen schenken, von dem man weiß, dass er uns Böses wünscht. Ebenso wenig ist es möglich, ihm gegenüber Freundschaft zu hegen, weil man weiß, dass er fähig ist, diese zu missbrauchen. Unter Menschen, die sich gegenseitig misstrauen, kann es keinen Impuls der Zuneigung geben, so wie es unter denjenigen möglich ist, die in der gleichen Art und Weise denken. Und wenn man einem Feind begegnet, empfindet man schließlich nicht die Freude, wie bei der Begegnung mit einem Freund.
Diese beiden Gefühle ergeben sich aus einem physikalischen Gesetz: das des Ausgleichs und das der Abstoßung. Der böse Gedanke strömt ein Fluidum aus, dessen Eindruck schmerzlich ist; der wohlwollende Gedanke umhüllt euch mit einer angenehmen Ausstrahlung. Daher der Unterschied der Empfindungen, die man bei der Annäherung eines Freundes oder eines Feindes spürt. Die Feinde zu lieben bedeutet also nicht, dass man keinen Unterschied zwischen ihnen und den Freunden machen soll. Dieses Gebot scheint für uns nur deshalb so schwer, ja sogar unmöglich anwendbar zu sein, weil wir irrtümlicherweise glauben, dass uns damit vorgeschrieben wird, den Feinden einen gleichrangigen Platz in unserem Herzen zu geben. Wenn die Armut der menschlichen Sprache dazu zwingt, dasselbe Wort zu verwenden, um verschiedene unterschiedliche Abstufungen der Gefühle auszudrücken, soll die Vernunft je nach dem Fall eine Unterscheidung herbeiführen.
Die Feinde zu lieben, bedeutet:
– also nicht, für sie eine Zuneigung zu haben, die nicht natürlich ist, denn der Kontakt mit einem Feind verursacht eine ganz andere Art des Herzklopfens, als der mit einem Freund;
– weder Hass noch Groll noch Verlangen nach Rache gegen sie zu haben;
– ihnen, ohne Hintergedanken und bedingungslos das Böse zu vergeben, das sie uns angetan haben;
– der Versöhnung kein Hindernis entgegenzusetzen;
– ihnen das Gute zu wünschen, anstelle des Bösen;
– sich über das Gute zu freuen, das ihnen geschieht, anstatt sich darüber zu ärgern;
– ihnen im Notfall eine helfende Hand zu reichen;
– sich durch Worte und Taten von allem zu enthalten, was ihnen schaden könnte.
– schließlich, ihnen bei allem das Böse mit dem Guten zu vergelten, ohne die Absicht sie zu erniedrigen. Jeder, der dies macht, erfüllt die Bedingungen des Gebots: Liebt eure Feinde.