3. Gewisse Worte, sehr wenige übrigens, die aus Jesu Mund kommend wirklich sehr befremdlich klingen, bilden einen so seltsamen Kontrast, dass man instinktiv ihren wortgemäßen Sinn ablehnt, wobei die Erhabenheit Seiner Lehre nicht darunter leidet. Da diese Worte nach Seinem Tod niedergeschrieben wurden – keines der Evangelien wurde zu Seinen Lebzeiten geschrieben – ist es gestattet anzunehmen, dass in diesem Fall der tiefere Sinn Seiner Gedanken nicht richtig wiedergegeben wurde, oder – was noch wahrscheinlicher ist – dass der ursprüngliche Sinn bei der Übersetzung von der einen in eine andere Sprache einige Änderungen erlitten hat. Es genügt, wenn ein Fehler ein erstes Mal gemacht wurde, um bei der Wiedergabe wiederholt zu werden, wie man das so oft bei historischen Fakten sieht.
Das Wort hassen, in diesem Satz vom Evangelist Lukas: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter hasst“, ist so ein Fall. Kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, Jesus dieses Wort zuzuschreiben. Es wäre deshalb überflüssig, darüber zu diskutieren und noch weniger zu versuchen, es zu rechtfertigen. Es wäre notwendig zu wissen, ob Er es ausgesprochen hat, und falls dies bejaht werden kann, ob in der Sprache, in der Er sich äußerte, dieses Wort die gleiche Bedeutung wie in unserer Sprache hatte. Der Abschnitt vom Evangelist Johannes: „Wer sein Leben in dieser Welt hasst, bewahrt es für das ewige Leben“, drückt gewiss nicht die Meinung aus, die wir ihm beimessen.
Die hebräische Sprache war nicht reich und viele Worte hatten mehrere Bedeutungen. So ist es zum Beispiel mit dem Wort, dass in der Genesis die Phasen der Schöpfung bezeichnet und zugleich benutzt wurde, um irgendeinen Zeitabschnitt und die Zeit für eine vollständige Umdrehung der Erde zu bezeichnen. Daher wurde es später mit dem Wort Tag übersetzt, hieraus entstand dann der Glaube, dass die Welt ein Werk von sechs Mal vierundzwanzig Stunden war. Ebenso geschah es mit dem Wort, das zugleich ein Kamel und ein Seil bezeichnete, weil die Seile aus Kamelhaaren hergestellt wurden, und deswegen wurde es in der Allegorie des Nadelöhrs, mit dem Wort Kamel übersetzt (siehe Kap. XVI, Nr. 2). *
Man muss daher die Sitten und den Charakter der Völker berücksichtigen, die das besondere Wesen ihrer Sprache beeinflussen. Ohne diese Kenntnis entgeht einigen Worten ihr wahrer Sinn. Das gleiche Wort kann von einer Sprache in die andere übersetzt eine mehr oder weniger energische Bedeutung haben. Ein Wort kann in einer Sprache eine Beleidigung oder eine Gotteslästerung sein, und unbedeutend in einer anderen, gemäß der Bedeutung, die man ihm beimisst. In einer gleichen Sprache verlieren einige Wort ihren Wert durch die Jahrhunderte. Daher kommt es, dass eine streng genommene buchstäbliche Übersetzung nicht immer den Gedanken richtig wiedergibt, und um genau zu sein, ist es manchmal notwendig, nicht die entsprechenden Worte zu benutzen, sondern andere, gleichbedeutende oder Umschreibungen.
Diese Bemerkungen sind sehr wesentlich für die Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere der Evangelien. Wenn man das Umfeld nicht berücksichtigt, in dem Jesus lebte, läuft man Gefahr, sich in der Bedeutung einiger Ausdrücke und Tatsachen zu irren, infolge der Gewohnheit, die andern mit sich selbst gleichzusetzen. Aus diesem Grund ist es also nötig, von dem Wort Hass die moderne Bedeutung zu verwerfen, als gegensätzlich zum Wesen der Lehre Jesus (siehe auch Kapitel XIV, Nr. 5 und folgende).
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* Non odit auf Latein, Kai oder misei auf Griechisch bedeutet nicht hassen, sondern weniger lieben. Was das griechische Verb misein ausdrückt, sagt noch besser das hebräische Verb, dass Jesus gebraucht haben soll. Es bedeutet nicht nur hassen, sondern weniger lieben, nicht so stark lieben, ebenso stark wie einen anderen. In dem syrischen Dialekt, von dem man sagt, dass Jesus ihn am häufigsten gebrauchte, ist diese Bedeutung noch stärker. Es ist in diesem Sinn, dass es in der Genesis benutzt wird (Kap. XXIX, 30-31): „Und Jakob liebte auch Rachel mehr als Lia, und Jehova, als er sah, dass Lia gehasst wurde …“. Es ist offenkundig, dass der wahre Sinn weniger geliebt bedeutete; so muss dies übersetzt werden. In vielen anderen hebräischen Stellen, insbesondere den syrischen, wird das gleiche Verb im Sinne von: nicht so stark lieben wie einen anderen, und man würde einen widersprüchlichen Sinn mit „hassen“ übersetzen, was eine andere ganz deutliche Bedeutung hat. Der Text des heiligen Matthäus beseitigt im Übrigen jegliche Schwierigkeit. (Anmerkung von M. Pezzani).