KAPITEL X
Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen
• Vergebt, damit Gott euch vergibt • Sich mit dem Gegner versöhnen • Das gefälligste Opfer für Gott • Der Splitter und der Balken im Auge • Verurteilt nicht, um nicht verurteilt zu werden! Derjenige, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein • Unterweisungen der geistigen Welt: Verzeihung der Beleidigungen; Die Nachsicht; Niemand hat das Recht seinen Nächsten zu tadeln, die Fehler der andern zu beobachten, das Übel der andern aufzudecken.
Vergebt, damit Gott euch vergibt
1. Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. (Matthäus, Kap. V, 7)
2. Wenn ihr den Menschen die Verfehlungen vergebt, die sie an euch begangen haben, wird euer himmlischer Vater euch auch eure Sünden vergeben. – Wenn ihr aber den Menschen, die euch beleidigt haben, nicht vergebt, wird euer Vater euch eure Sünden auch nicht vergeben. (Matthäus, Kap. VI, 14, 15)
3. Wenn euer Bruder wider euch gesündigt hat, Geht hin und sprecht euch mit ihm unter vier Augen aus. Schenkt er euch Gehör, so habt ihr euren Bruder gewonnen. – Da trat Petrus näher und sagte zu ihm: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt? Bis siebenmal? – Jesus antwortete ihm: Ich sage euch nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal. (Matthäus, Kap. XVIII, 15, 21, 22)
4. Die Barmherzigkeit ist die Ergänzung zur Sanftmut, denn derjenige, der nicht barmherzig sein kann, wird auch nicht sanft und friedvoll sein können. Die Barmherzigkeit besteht im Vergessen und der Vergebung der Beleidigungen. Der Hass und der Groll deuten auf eine Seele ohne Erhabenheit und Größe hin. Das Vergessen der Beleidigungen ist der erhabenen Seele eigen, die über den ihr zugefügten Angriffen steht. Die nicht erhabene Seele ist immer ängstlich, von leicht verletzbarer Empfindlichkeit und voller Bitterkeit; und die erhabene Seele ist ruhig, voller Milde und Nächstenliebe.
Wehe demjenigen, der sagt: Ich werde nie vergeben! Wenn dieser nicht von den Menschen verurteilt wird, wird er gewiss von Gott verurteilt werden. Mit welchem Recht würde er die Vergebung seiner eigenen Fehler verlangen, wenn er nicht die Fehler anderer vergibt? Jesus lehrt uns, dass die Barmherzigkeit keine Grenzen haben soll, wenn Er sagt, dass man seinem Bruder vergeben soll, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.
Es gibt aber zwei sehr verschiedene Arten der Vergebung: – Die eine ist groß, edel, wahrhaft großzügig, ohne Hintergedanken, die mit Zartgefühl die Selbstachtung und die Empfindlichkeit des Gegners rücksichtvoll behandelt, auch wenn dieser letztere Unrecht hat; – Die andere ist, dass der Beleidigte oder derjenige, der sich beleidigt fühlt, dem anderen erniedrigende Bedingungen auferlegt und ihn das Gewicht einer Vergebung spüren lässt, die erregt anstatt zu beruhigen. Wenn er seine Hand reicht, tut er dies nicht mit Wohlwollen, sondern aus Prahlerei, um allen Menschen sagen zu können: Schaut wie großzügig ich bin! Unter solchen Umständen ist eine aufrichtige Versöhnung beiderseits nicht möglich. Nein, hier gibt es keine Großzügigkeit, sondern nur eine Art, seinen Stolz zu befriedigen. Bei allen Anfechtungen wird immer derjenige, der sich versöhnlicher zeigt, der mehr Uneigennützigkeit sowie Nächstenliebe und wahrhaftige Erhabenheit der Seele beweist, die Sympathie der neutralen Menschen für sich gewinnen.
Sich mit dem Gegner versöhnen
5. Versöhnt euch so schnell wie möglich mit eurem Gegner, während ihr noch mit ihm unterwegs seid, damit euer Gegner euch nicht dem Richter übergibt und der Richter euch dem Gerichtsdiener ausliefert und ihr ins Gefängnis gebracht werdet. – Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet von dort nicht herauskommen, bis ihr den letzten Denar bezahlt habt. (Matthäus, Kap.V, 25-26)
6. Bei der Ausübung der Vergebung und des allgemein Guten gibt es mehr als eine moralische Wirkung, es gibt auch die materielle Wirkung. Man weiß, dass der Tod uns von unseren Feinden nicht befreit; die rachsüchtigen Geister verfolgen oft mit ihrem Hass jenseits des Grabes diejenigen, gegen die sie Groll hegen. Das Sprichwort, das sagt: „Stirbt das Tier, stirbt auch das Gift“, ist daher falsch, wenn es auf den Menschen angewendet wird. Der böse Geist wartet, bis derjenige, den er hasst, an seinen Körper gefesselt und somit weniger frei ist, um ihn leichter quälen und in seinen Interessen oder bei seinen geliebten Menschen verletzen zu können. Man soll in dieser Tatsache die Ursache der meisten Fälle von Obsession (Umsessenheit) sehen, besonders bei den gefährlichen, wie die von Unterjochung und Possession (Besessenheit). Umsessene wie auch Besessene sind also fast immer Opfer einer früheren Rache, zu der sie wahrscheinlich wegen ihres Verhaltens Anlass gegeben haben. Gott lässt dies zu, um sie für das Übel zu bestrafen, das sie selbst verursacht haben, oder falls sie nichts getan haben, weil sie mangels Nachsicht und Nächstenliebe nicht vergeben haben. Im Hinblick auf eine zukünftige Ruhe ist es also wichtig, die Fehler, die man gegen den Nächsten begangen hat, so schnell wie möglich wieder gut zu machen; den Feinden zu vergeben, um alle Streitigkeiten, alle begründeten Anlässe für spätere Feindseligkeiten auszulöschen, bevor man stirbt. Auf diese Art und Weise kann man aus einem hartnäckigen Feind in dieser Welt einen guten Freund in der andern machen; man bleibt zumindest im guten Recht und Gott lässt nicht zu, dass derjenige, der vergeben hat, Ziel einer Rache sein wird. Als Jesus empfohlen hat, sich so schnell wie möglich mit dem Gegner zu versöhnen, war es nicht nur im Hinblick darauf, die Zwietracht während der gegenwärtigen Existenz zu beseitigen, sondern auch um zu vermeiden, dass diese im zukünftigen Leben weiterbesteht. „Ihr werdet dem nicht entrinnen“, sagt Er, „solange ihr nicht bis zum letzten Denar bezahlt habt“, d.h. der Gerechtigkeit Gottes vollständig entsprochen habt.
Das gefälligste Opfer für Gott
7. Wenn ihr nun eure Opfergabe zum Altar bringt und ihr euch dort erinnert, dass euer Bruder etwas gegen euch hat, so lasst eure Opfergabe dort vor dem Altar liegen; geht zuerst hin und versöhnt euch vorher mit eurem Bruder und dann kommt zurück und opfert eure Gabe. (Matthäus, Kap. V, 23-24)
8. Als Jesus sagte: „Geht hin und versöhnt euch mit eurem Bruder, bevor ihr eure Opfergabe am Altar niederlegt“, lehrte Er, dass das gefälligste Opfer für den Herrn dasjenige ist, das aus dem eigenen Gefühl erfolgt; dass es notwendig ist, schon vergeben zu haben, bevor man vor Gott erscheint, um IHN um Vergebung zu bitten, und falls man gegenüber einem seiner Brüder ein Unrecht begangen hat, ist es notwendig, dies vorher wieder gutzumachen. Nur so wird die Opfergabe angenommen, weil sie aus einem Herz kommt, das von allen bösen Gedanken gereinigt ist. Er erläutert die Vorschrift auf diese Art, weil die Juden materielle Gaben opferten. Er musste Seine Worte den Gebräuchen anpassen. Der Christ opfert keine materiellen Gaben; er vergeistigt die Opfergabe, aber diese Vorschrift hat dadurch mehr Kraft; er opfert Gott seine Seele, und diese Seele soll gereinigt sein. Wenn man in den Tempel des Herrn hineingeht, soll man alle Gefühle von Hass und Feindseligkeit, alle bösen Gedanken seinem Bruder gegenüber draußen lassen; erst dann wird sein Gebet von den Engeln bis zu den Füßen des EWIGEN getragen. Das ist, was Jesus mit diesen Worten lehrt: Lasst eure Opfergabe dort vor dem Altar und geht zuerst hin und versöhnt euch mit eurem Bruder, wenn ihr dem Herrn gefällig sein möchtet.
Der Splitter und der Balken im Auge
9. Warum seht ihr den Splitter in eures Bruders Auge, ihr, die ihr den Balken in eurem Auge nicht seht? – Oder wie ihr zu eurem Bruder sagt: Lass mich den Splitter aus deinem Auge ziehen; ihr, die ihr in eurem Auge einen Balken habt? – Ihr Heuchler, zieht zuerst den Balken aus eurem Auge und dann könnt ihr bemühen, den Splitter aus dem Auge eures Bruders zu entfernen. (Matthäus, Kap. VII, 3-5)
10. Einer der Fehler der Menschheit ist, das Böse der andern zu sehen, bevor man das Böse in sich selbst sieht. Um sich selbst zu beurteilen, sollte man sich in einem Spiegel betrachten; sich auf irgendeine Weise aus sich selbst heraus begeben und sich dabei als eine andere Person sehen und fragen: Was würde ich denken, wenn ich einen anderen sehen würde, der das Gleiche tut, was ich mache? Es ist unbestreitbar der Stolz, der den Menschen dazu bringt, seine eigenen Fehler vor sich selbst zu verbergen, sowohl die moralischen als auch die physischen. Diese Fehler widersprechen vor allem der Nächstenliebe, weil die wahre Nächstenliebe anspruchslos, einfach und nachsichtig ist; die stolze Nächstenliebe wirkt paradox, da sich diese beiden Gefühle gegeneinander aufheben. Wie kann denn ein Mensch, der so eitel ist und an die Wichtigkeit seiner Persönlichkeit und an die Überlegenheit seiner Eigenschaften glaubt, gleichzeitig genug Selbstverleugnung haben, um das Gute beim andern hervorzuheben, das ihn in den Schatten stellen könnte, statt das Böse, das ihn hervorheben könnte? Wenn der Stolz der Ursprung vieler Fehler ist, ist er auch gleichzeitig die Verneinung von vielen Tugenden; man findet ihn als Basis und Anlass fast aller Handlungen. Deswegen bemühte sich Jesus, ihn als das hauptsächliche Hindernis des Fortschritts zu bekämpfen.
Verurteilt nicht, um nicht verurteilt zu werden! Derjenige, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.
11. Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet! Denn ihr werdet verurteilt, so wie ihr andere verurteilt habt; und man wird euch mit demselben Maß messen, mit dem ihr die anderen gemessen habt. (Matthäus, Kap. VII, 1-2)
12. Da brachten Ihm die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, stellten sie in die Mitte des Volkes und sagten zu Jesus: Meister, diese Frau ist beim Ehebruch überrascht worden. Nun hat Moses uns im Gesetz geboten, solche Ehebrecherinnen zu steinigen. Welches ist denn Deine Ansicht darüber? – Das sagten sie aber, um Ihn zu versuchen, damit sie einen Grund hatten, Ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. – Als sie ihn beharrlich weiterfragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie! – Und er bückte sich wieder und schrieb weiter auf die Erde. – Als sie ihn so sprechen hörten, gingen sie hinweg, einer nach dem andern, die Ältesten voran, und so blieb Jesus allein zurück mit der Frau, die in der Mitte des Platzes war.
Da richtete sich Jesus auf und sprach zu ihr: „Weib, wo sind deine Ankläger? Hat dich niemand verurteilt?“ – Sie sagte: „Nein, Herr!“ Jesus antwortete: „Auch ich werde dich nicht verurteilen. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Johannes, Kap. VIII, 3-11)
13. „Derjenige, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, sagte Jesus. Diese Maxime macht uns die Nachsicht zur Pflicht, da es niemanden gibt, der sie nicht für sich selbst benötigt. Sie lehrt, dass wir andere nicht strenger beurteilen sollen, als wir uns selbst beurteilen würden; und auch nicht bei anderen verurteilen, was wir bei uns selbst entschuldigen. Bevor wir jemandem einen Fehler vorwerfen, schauen wir doch zuerst, ob der gleiche Tadel nicht auf uns selbst zutrifft.
Der Tadel, über das Benehmen von anderen geworfen, kann zwei Ursachen haben: das Böse bekämpfen oder die Person in Misskredit bringen, deren Handlungen wir kritisieren. Dieses letzte Motiv hat nie eine Entschuldigung, da er aus übler Nachrede und Bosheit besteht. Das Erste kann lobenswert sein und verwandelt sich sogar bei einigen Fällen in Pflicht, denn aus ihm kann sich das Gute ergeben und ohne es wäre das Böse in der Gesellschaft nie bekämpft worden; soll denn der Mensch nicht dem Fortschritt seiner Mitmenschen helfen? Man sollte also diesen Grundsatz nicht in seinem unumschränkten Sinn nehmen: „Verurteilt nicht, wenn ihr nicht verurteilt werden möchtet“, denn das Wort tötet und der Geist belebt.
Jesus konnte nicht verbieten, das Böse zu tadeln, da Er uns ja selbst das Beispiel gab und es mit energischen Worten machte. Er wollte aber sagen, dass die Autorität des Tadels im Verhältnis zu der moralischen Autorität von dem steht, der ihn ausspricht. Sich schuldig zu machen mit dem, was man bei anderen verurteilt, bedeutet, auf diese Autorität zu verzichten und es wäre zudem anmaßend, das Recht der Bekämpfung für sich in Anspruch zu nehmen. Außerdem lehnt das innere Gewissen allen Respekt und alle freiwillige Gehorsamkeit vor demjenigen ab, der mit Macht ausgestattet ist, aber die Gesetze und Prinzipien übertritt, mit deren Anwendung er beauftragt ist. Vor Gottes Augen gibt es keine rechtmäßige Autorität, außer der, die sich auf das gute Beispiel stützt; das geht gleichfalls aus den Worten Jesu hervor.
Unterweisungen der geistigen Welt
Verzeihung der Beleidigungen
14. Wie oft soll ich meinem Bruder verzeihen? Du sollst ihm nicht nur siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal vergeben. Hier ist eins von den Worten Jesus, die eure Intelligenz am stärksten treffen und zu euren Herzen am lautesten sprechen sollen. Vergleicht diese barmherzigen Worte mit denen aus dem einfachsten, zusammenfassenden Gebet, gleichzeitig so groß in seinem Streben, das Jesus Seinen Jüngern lehrte, und ihr werdet immer den gleichen Gedanken finden. Jesus, der Gerechte per Exzellenz, antwortet Petrus: Du wirst aber verzeihen, grenzenlos; du wirst jede Beleidigung verzeihen, so oft sie dir zugefügt wird; du wirst deinen Mitmenschen diese Selbstlosigkeit lehren, welche uns gegen die Angriffe, schlechtes Benehmen und Beleidigungen unverwundbar macht. Du wirst sanft und demütig im Herzen sein und niemals deine Sanftmut messen; schließlich wirst du das machen, was du wünschst, das es der himmlische Vater für dich tut. Vergibt ER dir nicht andauernd? Zählt ER vielleicht, wie oft ER dir deine Fehler vergeben hat?
Hört also auf die Antwort von Jesus und wendet sie bei euch selbst an, so wie Petrus; vergebt; macht Gebrauch von der Nachsicht, seid barmherzig, großzügig, sogar verschwenderisch mit eurer Liebe. Gebt, denn der Herr wird euch geben. Verzeiht, denn der Herr wird euch verzeihen. Erniedrigt euch, denn der Herr wird euch erheben. Demütigt euch, denn der Herr wird euch an Seiner rechten Seite sitzen lassen.
Geht, meine Geliebten, studiert und kommentiert diese Worte, die ich euch im Auftrag dessen sage, der aus der Höhe des himmlischen Glanzes Seinen Blick immer auf euch richtet und mit Liebe die undankbare Aufgabe fortsetzt, die Er vor 18 Jahrhunderten * angefangen hat. Verzeiht euren Nächsten genauso, wie man euch verzeihen soll. Falls ihre Taten euch persönlich benachteiligt haben, gibt es hier ein weiteres Motiv, um nachsichtig zu sein, denn das Verdienst der Verzeihung steht im Verhältnis zur Schwere des Übels. Ihr würdet bei der Vergebung der Fehler eurer Nächsten keinen Verdienst erlangen, wenn sie euch nur geringfügige Kränkungen zugefügt hätten.
Spiritisten, vergesst nie, dass die Vergebung der Beleidigungen, geschehen durch Worte oder auch Taten, nie leere Worte sein dürfen. Wenn ihr sagt, dass ihr Spiritisten seid, dann seid es auch. Vergesst das Böse, das man euch angetan hat und denkt an nichts anderes als an das Gute, das ihr machen könnt. Derjenige, der diesen Weg eingeschlagen hat, soll sich nicht von ihm entfernen, auch nicht in Gedanken, denn ihr seid für eure Gedanken verantwortlich, und Gott kennt sie. Macht also, dass ihr von allen Gefühlen des Grolls frei seid. Gott weiß, was in der Tiefe des Herzens eines jeden ist. Glücklich also derjenige, der jede Nacht beim Einschlafen sagen kann: Ich habe nichts gegen meinen Nächsten. (Siméon, Bordeaux, 1862)
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* Anmerkung der Übersetzerin: Aus heutiger Sicht sind es 21 Jahrhunderte.
15. Den Feinden zu vergeben heißt, um Vergebung für sich selbst zu bitten; den Freunden zu vergeben bedeutet, ihnen einen Beweis der Freundschaft zu geben; die Beleidigung zu vergeben zeigt, dass man besser wird. Vergebt, meine Freunde, damit Gott euch vergibt, denn, wenn ihr hart, anspruchsvoll und unbeugsam seid; wenn ihr auch gegen eine leichte Beleidigung Unnachsichtigkeit übt, warum möchtet ihr dann, dass Gott vergisst, dass ihr jeden Tag ein großes Bedürfnis der Nachsicht habt? Oh! Wehe demjenigen, der sagt: „Ich werde niemals vergeben“ denn er spricht seine eigene Verurteilung aus. Wer von euch weiß schon, wenn ihr in euer Inneres hineinschaut, ob ihr nicht selbst der Angreifer wart? Wer weiß, ob bei diesem Kampf, der mit einem Nadelstich angefangen hat und mit einem Bruch endete, nicht ihr den ersten Schlag ausgeführt habt? Wer weiß, ob euch nicht ein beleidigendes Wort herausgerutscht ist? Wer weiß, ob ihr die nötige Milderung angewendet habt? Gewiss hat euer Gegner Unrecht, wenn er sich zu empfindlich zeigt, aber das ist für euch ein Grund nachsichtig zu sein, um nicht selbst den Tadel zu verdienen, den ihr an ihn richtet. Angenommen, ihr wärt wirklich in einer Situation beleidigt worden, wer sagt, ob ihr nicht die Angelegenheit mit Repressalien vergiftet habt und in einen ernsthaften Streit habt ausarten lassen, was man leicht hätte vergessen können? Falls es von euch abhängig war, die Folgen zu verhindern und ihr es nicht getan habt, seid ihr schuldig. Nehmen wir schließlich an, dass ihr euch durchaus keinen Vorwurf zu machen habt, dann wird euer Verdienst größer sein, wenn ihr euch gnädig zeigt.
Es gibt aber zwei sehr verschiedene Arten zu vergeben: Es ist die Vergebung über die Lippen und die Vergebung aus dem Herzen. Sehr viele Menschen sagen über ihrem Gegner: „Ich vergebe ihm“, während sie innerlich eine heimliche Freude über das Übel empfinden, das ihm widerfährt, und sagen zu sich selbst, dass er bekommt, was er verdient hat. Wie viele sagen: „Ich vergebe“ und fügen hinzu: „aber ich werde mich nie versöhnen; ich möchte ihn in meinem ganzen Leben nicht wiedersehen“. Ist das die Vergebung gemäß dem Evangelium? Nein, die echte Vergebung, die christliche Vergebung ist diejenige, die einen Schleier über die Vergangenheit wirft. Diese ist die einzige, die berücksichtigt wird, denn Gott gibt sich nicht mit dem äußerem Schein zufrieden: ER erforscht die Tiefe der Herzen und die verborgensten Gedanken. Man imponiert IHM nicht mit Worten und leeren Versprechungen. Das vollständige und unumschränkte Vergessen der Beleidigungen ist den großen Seelen eigen. Der Groll ist immer ein Zeichen der Herabwürdigung und Unterlegenheit. Vergesst nicht, dass man die wahre Vergebung mehr an den Taten als an den Worten erkennt. (Apostel Paulus, Lyon, 1861)
Die Nachsicht
16. Spiritisten, heute möchten wir über die Nachsicht zu euch sprechen, dieses so sanfte, brüderliche Gefühl, das alle Leute für ihre Mitmenschen haben sollten, von dem jedoch nur sehr wenige Gebrauch machen.
Die Nachsicht sieht die Fehler der andern nicht, oder, falls sie diese sieht, vermeidet sie darüber zu reden, sie zu verbreiten. Im Gegenteil verheimlicht sie diese, damit sie nur ihr allein bekannt sind, und falls die Böswilligkeit diese entdeckt, hat sie immer eine Entschuldigung dafür bereit, um sie zu verschleiern, d.h. eine glaubhafte, seriöse Entschuldigung, und nicht solche, die den Schein haben, die Fehler zu mildern, sie aber mit heimtückischer Geschicklichkeit hervorhebt.
Die Nachsicht beschäftigt sich nie mit den bösen Handlungen der andern, es sei denn, um ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen, allerdings wird sie sich bemühen, die Folgen dieser Handlungen soweit wie möglich zu mildern. Sie macht keine anstößigen Bemerkungen, hat keine Vorwürfe auf den Lippen, sondern nur Ratschläge, meistens taktvolle. Wenn ihr Kritik übt, welche Konsequenz soll man aus euren Worten ziehen? Dass ihr, die ihr tadelt, nicht getan hättet, was ihr tadelt, und dass ihr besser seid als der Schuldige. Oh, Menschen! Wann werdet ihr eure eigenen Herzen, Gedanken und Taten beurteilen, ohne euch mit dem zu beschäftigen, was eure Mitmenschen machen? Wann werdet ihr eure strengen Augen nur über euch selbst öffnen?
Seid also streng zu euch und nachsichtig den andern gegenüber. Denkt an DENJENIGEN, DER in letzter Instanz urteilt; DER die verborgenen Gedanken jedes Herzens sieht und somit die Fehler entschuldigt, die ihr oft tadelt oder DER verurteilt, was ihr entschuldigt, weil ER das Motiv aller Handlungen kennt, und dass ihr, die ihr so laut schreit: „Bannfluch!“ vielleicht schwerwiegendere Fehler begangen habt.
Said nachsichtig, meine Freunde, denn die Nachsicht zieht an, beruhigt, richtet wieder auf, während die Unnachsichtigkeit entmutigt, entfernt und aufregt. (Joseph, Schutzgeist, Bordeaux, 1863)
17. Seid nachsichtig mit den Fehlern der andern, welcher Art sie auch seien. Beurteilt mit Strenge nur eure eigenen Taten und der Herr wird an euch die Nachsicht anwenden, wie ihr sie bei den andern angewendet habt.
Unterstützt die Starken, ermutigt sie zur Beharrlichkeit. Stärkt die Schwachen und zeigt ihnen die Güte Gottes, der die kleinste Reue hochschätzt. Zeigt jedem den Engel der Reue, der seine weißen Flügel über die Fehler der Menschheit ausbreitet und so diese vor den Augen desjenigen verschleiert, der das Unreine nicht sehen kann. Versteht die unendliche Barmherzigkeit eures Vaters und vergesst nie, IHM mit euren Gedanken und insbesondere mit euren Handlungen zu sagen: „Vergib uns unsere Fehler, wie auch wir denjenigen vergeben, die uns beleidigt haben“. Versteht die Bedeutung dieser erhabenen Worte richtig; nicht nur der Wortlaut ist bewundernswert, sondern auch die Lehre, die sie enthalten.
Und um was bittet ihr den Herrn, wenn ihr um Vergebung fleht? Nur um das Vergessen eurer Fehler? Ein Vergessen, das euch nichts einbringt, denn falls Gott sich darauf beschränkt, eure Fehler zu vergessen, würde ER euch nicht bestrafen, aber auch nicht belohnen. Die Belohnung kann nicht der Preis für das Gute sein, das man nicht getan hat und noch weniger für das Böse, das man getan hat, selbst wenn es inzwischen vergessen wurde. Indem ihr um Vergebung für eure Übertretung bittet, bittet ihr um die Gunst SEINER Gnade, um nicht wieder zurückzufallen, und die nötige Kraft, um einen neuen Weg einschlagen zu können, den Weg der Ergebenheit und Liebe, auf dem ihr die Wiedergutmachung der Reue hinzufügen könnt.
Wenn ihr euren Mitmenschen vergebt, gebt euch nicht damit zufrieden, den Schleier des Vergessens über ihre Fehler auszubreiten, denn dieser Schleier ist fast immer für eure Augen durchsichtig. Bringt ihnen die Liebe gleichzeitig mit der Vergebung, tut ihnen das Gleiche, um das ihr euren himmlischen Vater bittet, für euch zu tun. Ersetzt den Zorn, der befleckt, durch die Liebe, die läutert. Predigt mit guten Beispielen diese aktive, unermüdliche Nächstenliebe, die Jesus euch gelehrt hat. Predigt sie, wie Er es getan hat, solange Er auf der Erde lebte, sichtbar für die physischen Augen und wie Er sie noch unaufhörlich predigt, seitdem Er nur noch für die geistigen Augen sichtbar ist. Folgt diesem göttlichen Vorbild; tretet in Seine Fußstapfen; sie werden euch zu einem Zufluchtsort führen, wo ihr Ruhe nach dem Kampf finden werdet. Tragt alle euer Kreuz wie Er und ersteigt mühsam aber mutig, euren Leidensweg, auf dem Gipfel wartet die Verherrlichung. (Johannes, Bischof von Bordeaux, 1862)
18. Liebe Freunde, seid streng mit euch selber und nachsichtig mit der Schwäche der andern. Dieses ist eine Ausübung der heiligen Nächstenliebe, die sehr wenige Menschen beachten. Ihr alle habt schlechte Neigungen zu besiegen, Fehler zu korrigieren, Gewohnheiten zu verändern. Ihr alle habt eine mehr oder weniger schwere Bürde abzulegen, um den Berggipfel des Fortschritts zu erklimmen. Warum dann so einen Scharfblick für den Nächsten und so eine Blindheit für euch selbst? Wann werdet ihr aufhören, in dem Auge eures Bruders den verletzenden Splitter zu bemerken, ohne den Balken wahrzunehmen, der euch blind macht und der euch von einem Sturz zum nächsten laufen lässt? Glaubt den Geistwesen, euren Geschwistern. Jeder Mensch, der so hochmütig ist zu glauben, größer zu sein als seine inkarnierten Mitmenschen – in Tugenden und Verdiensten – ist unvernünftig und schuldig und Gott wird ihn am Tag SEINER Gerechtigkeit bestrafen. Das wahre Merkmal der Nächstenliebe ist die Bescheidenheit und die Demut, die darin bestehen, die Fehler der andern nur oberflächlich zu sehen, und die sich bemüht, das Gute und Tugendhafte in ihnen zur Geltung zu bringen. Auch wenn das menschliche Herz ein Abgrund der Korruption ist, es gibt immer in irgendeiner seiner verborgensten Falten den Keim von einigen guten Gefühlen, den lebendigen Funken der geistigen Essenz.
Spiritismus, tröstende und segnende Lehre, wie glücklich sind die, die dich kennen und die aus der heilsamen Lehre der Geister des Herrn Nutzen ziehen. Für jene ist der Weg beleuchtet und auf der ganzen Strecke können sie diese Worte klar lesen, die ihnen das Mittel zeigen, um das Ziel zu erreichen: Ausübung der Nächstenliebe, Nächstenliebe des Herzens, Nächstenliebe zum Mitmenschen wie zu sich selbst. Kurzum: Nächstenliebe zu allen und die Liebe zu Gott über alles, weil die Liebe zu Gott alle Pflichten zusammenfasst, und weil es unmöglich ist, Gott wirklich zu lieben, ohne die Nächstenliebe zu praktizieren, aus der ER ein Gesetz für alle Geschöpfe gemacht hat. (Dufêtre, Bischof von Nevers, Bordeaux)
19. Da niemand vollkommen ist, ergibt sich daraus, dass auch niemand das Recht hat, seinen Nächsten zu tadeln?
Gewiss nicht, denn jeder von euch soll für den Fortschritt von allen arbeiten, und vor allem für diejenigen, die eurem Schutz anvertraut wurden; das ist aber gefühlvoll zu tun, aus einer guten Absicht heraus und nicht - wie es meistens gemacht wird - aus Spaß am Verleumden. In diesem letzten Fall ist der Tadel eine Bosheit; im ersten eine Pflicht, die die Nächstenliebe möglichst rücksichtsvoll zu erfüllen befiehlt. Und selbst den Tadel, den man andern zuerkennt, soll man gleichzeitig an sich selbst richten und sich fragen, ob man ihn nicht auch verdient. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)
20. Ist es tadelnswert, die Fehler der andern zu beobachten, wenn sich daraus kein Nutzen für sie ergeben kann, auch wenn man sie nicht bekannt macht?
Alles hängt von der Absicht ab. Gewiss ist es nicht verboten, das Böse zu sehen, wenn das Böse existiert. Es gäbe sogar Nachteile, nur das Gute überall zu sehen. Diese Täuschung würde dem Fortschritt schaden.
Das Unrecht liegt darin, diese Beobachtung zum Nachteil des Nächsten zu nutzen, indem man ihn bei den andern in Verruf bringt. Es wäre noch tadelnswerter, dies aus einem Gefühl der Boshaftigkeit zu machen und der Freude darüber, die andern bei einem Fehler zu ertappen. Es ist ganz anders, wenn man einen Schleier über das Übel wirft, um es vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem man sich darauf beschränkt, es für den eigenen Nutzen zu beobachten, d.h. sich damit zu befassen, um bei sich zu vermeiden, was man bei den andern tadelt. Im Übrigen, ist diese Beobachtung nicht auch nützlich für den Moralisten? Wie könnte er die Fehler der Menschheit beschreiben, wenn er sie nicht an diesen Beispielen erforscht? (Sankt Ludwig, Paris, 1860)
21. Gibt es Fälle, wo es notwendig wäre, das Übel der andern aufzudecken?
Diese Frage ist sehr heikel; und genau hier ist es notwendig, an die gut verstandene Nächstenliebe zu appellieren. Wenn die Unvollkommenheit einer Person nur ihr selbst schadet, ist es nicht nötig, diese bekanntzumachen; aber falls sie für andere schädlich sein kann, ist es notwendig, das Interesse der Mehrheit vorzuziehen, statt des Einzelnen. Je nach den Umständen kann es eine Pflicht sein, die Heuchelei und die Lüge zu entlarven; denn es ist besser, dass ein Einzelner stürzt, als dass viele von ihm betrogen und Opfer werden. In solchen Fällen ist es notwendig, die Summe der Vor- und Nachteile abzuwägen. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)