DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Da niemand vollkommen ist, ergibt sich daraus, dass auch niemand das Recht hat, seinen Nächsten zu tadeln?

19. Da niemand vollkommen ist, ergibt sich daraus, dass auch niemand das Recht hat, seinen Nächsten zu tadeln?


Gewiss nicht, denn jeder von euch soll für den Fortschritt von allen arbeiten, und vor allem für diejenigen, die eurem Schutz anvertraut wurden; das ist aber gefühlvoll zu tun, aus einer guten Absicht heraus und nicht - wie es meistens gemacht wird - aus Spaß am Verleumden. In diesem letzten Fall ist der Tadel eine Bosheit; im ersten eine Pflicht, die die Nächstenliebe möglichst rücksichtsvoll zu erfüllen befiehlt. Und selbst den Tadel, den man andern zuerkennt, soll man gleichzeitig an sich selbst richten und sich fragen, ob man ihn nicht auch verdient. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)


20. Ist es tadelnswert, die Fehler der andern zu beobachten, wenn sich daraus kein Nutzen für sie ergeben kann, auch wenn man sie nicht bekannt macht?


Alles hängt von der Absicht ab. Gewiss ist es nicht verboten, das Böse zu sehen, wenn das Böse existiert. Es gäbe sogar Nachteile, nur das Gute überall zu sehen. Diese Täuschung würde dem Fortschritt schaden.


Das Unrecht liegt darin, diese Beobachtung zum Nachteil des Nächsten zu nutzen, indem man ihn bei den andern in Verruf bringt. Es wäre noch tadelnswerter, dies aus einem Gefühl der Boshaftigkeit zu machen und der Freude darüber, die andern bei einem Fehler zu ertappen. Es ist ganz anders, wenn man einen Schleier über das Übel wirft, um es vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem man sich darauf beschränkt, es für den eigenen Nutzen zu beobachten, d.h. sich damit zu befassen, um bei sich zu vermeiden, was man bei den andern tadelt. Im Übrigen, ist diese Beobachtung nicht auch nützlich für den Moralisten? Wie könnte er die Fehler der Menschheit beschreiben, wenn er sie nicht an diesen Beispielen erforscht? (Sankt Ludwig, Paris, 1860)


21. Gibt es Fälle, wo es notwendig wäre, das Übel der andern aufzudecken?


Diese Frage ist sehr heikel; und genau hier ist es notwendig, an die gut verstandene Nächstenliebe zu appellieren. Wenn die Unvollkommenheit einer Person nur ihr selbst schadet, ist es nicht nötig, diese bekanntzumachen; aber falls sie für andere schädlich sein kann, ist es notwendig, das Interesse der Mehrheit vorzuziehen, statt des Einzelnen. Je nach den Umständen kann es eine Pflicht sein, die Heuchelei und die Lüge zu entlarven; denn es ist besser, dass ein Einzelner stürzt, als dass viele von ihm betrogen und Opfer werden. In solchen Fällen ist es notwendig, die Summe der Vor- und Nachteile abzuwägen. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)