DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Wirkliches Unglück

24. Jeder spricht vom Unglück, jeder hat es schon mal erlebt und glaubt seinen vielfältigen Charakter zu kennen. Ich komme, um euch zu sagen, dass fast jeder sich irrt, und dass das wirkliche Unglück keinesfalls das ist, was die Menschen, d.h. die Unglücklichen, vermuten. Sie sehen das Unglück in dem Elend, in dem Kamin ohne Feuer, in dem drohenden Gläubiger, in der leeren Wiege ihres Kindes, das vorher darin lachte, in den Tränen, in dem Sarg, dem man mit unbedecktem Kopf und zerbrochenem Herzen folgt, in der Angst des Verrates, in der Entblößung des Hochmutes, der sich mit Purpur bekleiden wollte und der seine Nacktheit nur mit Mühe unter den Lumpen der Eitelkeit verstecken kann. Dies alles und noch vieles mehr bezeichnet ihr in eurem menschlichen Sprachgebrauch Unglück. Ja, dies ist das Unglück für diejenigen, die nichts außer der Gegenwart sehen. Aber das wirkliche Unglück liegt mehr in den Konsequenzen einer Sache als in der Sache selbst. Sagt mir, ob ein im Augenblick glückliches Ereignis, das aber verhängnisvolle Folgen hat, in Wirklichkeit nicht unglücklicher ist als jenes, das zuerst eine Unannehmlichkeit verursacht und am Ende Gutes hervorbringt. Sagt mir, ob das Gewitter, das eure Bäume zerschlägt, die Luft aber säubert, indem es die gesundheitsschädlichen Miasmen auflöst, die den Tod verursachen könnten, nicht eher ein Glück ist als ein Unglück.



Um eine Sache beurteilen zu können, müssen wir die Folgen davon sehen. Folglich, um zu erkennen, was für den Menschen wirklich glücklich oder unglücklich ist, muss man sich jenseits dieses Lebens versetzen, denn dort lassen sich davon die Konsequenzen spüren. Also alles, was er aus seiner kurzen Sicht heraus Unglück nennt, hört mit dem Leben auf und findet seine Kompensation im zukünftigen Leben.



Ich werde euch das Unglück auf eine neue Weise offenbaren, auf eine schöne und blühende Weise, die ihr mit der ganzen Kraft eurer getäuschten Seelen annehmt und ersehnt. Das Unglück ist die Lust, das Vergnügen, der Lärm, die grundlose Unruhe und die unsinnige Befriedigung der Eitelkeit, die das Gewissen zum Schweigen bringen, die Gedankentätigkeit unterdrücken und den Menschen hinsichtlich seiner Zukunft durcheinander bringen. Das Unglück ist das Opium des Vergessens, das ihr leidenschaftlich erstrebt.



Hofft, die ihr weint! Zittert, die ihr lacht, weil euer Körper befriedigt ist! Man betrügt Gott nicht und entkommt nicht seinem Schicksal; und die Prüfungen, welche erbarmungslosere Gläubiger sind, als eine aufgrund der Notlage tobende Horde, lauern eurer trügerischen Ruhe auf, um euch plötzlich in die Auseinandersetzungen des wahren Unglücks zu stürzen, eines Unglücks, das die durch Gleichgültigkeit und Egoismus erlahmte Seele ertappt.



Der Spiritismus klärt euch über Wahrheit und Irrtum auf, die auf so seltsame Weise durch eure Blindheit entstellt sind, und stellt beides wieder ins rechte Licht. Ihr werdet dann wie tapfere Soldaten handeln, die – weit davon entfernt, vor der Gefahr zu fliehen – die risikoreichen Kämpfe dem Frieden vorziehen, der ihnen weder Ruhm noch eine Beförderung einbringen kann! Was bedeutet es schon für einen Soldaten, im Kampf seine Waffe, sein Gepäck und seine Kleidung zu verlieren, wenn er als Sieger und mit Ruhm daraus hervorgeht? Was bedeutet es für denjenigen, der an ein Weiterleben in der Zukunft glaubt, auf dem Schlachtfeld des irdischen Lebens, sein Vermögen und seine physische Hülle zu lassen, sofern seine Seele strahlend in das Himmelsreich eingeht? (Delphine de Girardin, Paris, 1861)