KAPITEL XVII
Seid vollkommen
• Charaktere der Vollkommenheit • Der gütige Mensch • Die guten Spiritisten • Das Gleichnis von der Saat • Unterweisungen der geistigen Welt: Die Pflicht; Die Tugend; Vorgesetzte und Untergebene; Der Mensch auf der Welt; Körper und Geist pflegen.
Charaktere der Vollkommenheit
1. Liebt eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden. – Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welche Belohnung werdet ihr bekommen? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? – Und wenn ihr nur eure Brüder und Schwestern grüßt, was tut ihr damit mehr als die anderen? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Seid nun vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. (Matthäus, Kap. V, 44, 46-48)
2. Da Gott die unendliche Vollkommenheit in allen Dingen besitzt, würde dieser Grundsatz: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“, wenn man ihn wortwörtlich nimmt, die Möglichkeit voraussetzen, die absolute Vollkommenheit zu erreichen. Wenn es dem Geschöpf gegeben wäre, so vollkommen zu sein wie der Schöpfer, würde es IHM gleich werden, was unzulässig ist. Aber die Menschen, zu denen Jesus gesprochen hat, hätten diese Nuance nicht verstehen können. Er beschränkt sich darauf, ihnen ein Modell vorzulegen, um ihnen zu sagen, dass sie sich bemühen sollen, es zu erreichen.
Man soll also aus diesen Worten die relative Vollkommenheit verstehen, für die die Menschheit empfänglich ist und die sie näher an die Göttlichkeit bringt. Woraus besteht diese Vollkommenheit? Jesus sagte es: „Die Feinde lieben; das Gute denjenigen tun, die uns hassen; für die beten, die uns verfolgen.“ Er zeigt damit, dass die Essenz der Vollkommenheit die Nächstenliebe ist, in ihrer höchsten Bedeutung, weil sie das Ausüben aller anderen Tugenden mit einschließt.
Wenn man nämlich die Folgen aller Laster betrachtet und sogar die der einfachsten Fehler, wird man erkennen, dass es keine gibt, die nicht mehr oder weniger das Gefühl der Nächstenliebe verändert, denn alle haben ihren Ursprung im Egoismus und Stolz, die die Verneinung der Nächstenliebe sind. Alles, was die Gefühle der Persönlichkeit überbewertet, zerstört oder schwächt zumindest die Grundlagen der wahren Nächstenliebe, die da sind: Güte, Nachsicht, Entsagung und Hingebung.
Da die Liebe zum Nächsten, bis hin zur Liebe seiner Feinde, sich mit keinerlei Fehler vereinigen kann, der im Gegensatz zur Liebe steht, ist sie deswegen immer das Indiz einer mehr oder weniger moralischen Überlegenheit. Daraus ergibt sich, dass der Grad der Vollkommenheit im direkten Verhältnis zur Größe dieser Liebe steht. Deshalb sagte Jesus Seinen Jüngern, nachdem Er ihnen die Regel der Nächstenliebe in ihrer höchsten Bedeutung erläuterte hatte: „Seid daher vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“.
Der gütige Mensch
3. Der wahrhaft gütige Mensch ist derjenige, der das Gesetz der Gerechtigkeit, der Liebe und der Nächstenliebe in seiner größten Reinheit praktiziert. Wenn er sein Gewissen über seine eigenen Taten befragt, fragt er sich selbst, ob er nicht gegen dieses Gesetz verstoßen hat; ob er nichts Böses getan hat und ob er alles Gute, das er hätte tun können, getan hat; ob er nicht freiwillig eine Gelegenheit versäumt hat, nützlich zu sein; ob sich niemand über ihn beklagen könnte. Kurzum, ob er für den andern das getan hat, was er wünscht, dass man es ihm antun würde.
Er glaubt an Gott, an SEINE Güte, SEINE Gerechtigkeit und SEINE Weisheit; und er weiß, dass nichts ohne SEINE Erlaubnis geschieht und unterwirft sich in allen Dingen SEINEM Willen.
Er vertraut auf die Zukunft, deshalb stellt er die spirituellen Güter über die vergänglichen weltlichen Güter.
Er weiß, dass alle Schicksalsschläge des Lebens, alle Leiden und Enttäuschungen, Prüfungen oder Sühne sind, und er nimmt sie ohne Klagen an.
Der Mensch, erfüllt von dem Gefühl der Nächstenliebe und der Liebe, tut das Gute, um des Guten Willen, ohne eine Belohnung zu erwarten; erwidert das Böse mit Gutem; verteidigt den Schwachen gegenüber dem Starken und opfert stets sein eigenes Interesse zugunsten der Gerechtigkeit.
Er findet seine Genugtuung in den Wohltaten, die er vollbringt; in dem Dienst, den er leistet; in der Freude, die er bereitet; in den Tränen, die er trocknet; in dem Trost, den er den Betrübten gibt. Sein erster Impuls ist, an seinen Nächsten zu denken, bevor er an sich selbst denkt; die Interessen anderer vor seine eigenen zu setzen. Der Egoist kalkuliert im Gegenteil die Gewinne und Verluste all seiner Wohltaten.
Der gütige Mensch ist gütig, menschlich und wohlwollend zu jedermann, ohne Unterscheidung von Rassen oder Glauben, weil er alle Menschen als seine Geschwister ansieht. Er respektiert jede aufrichtige Überzeugung der andern und verdammt niemanden, der nicht wie er denkt.
In allen Situationen ist die Nächstenliebe sein Wegweiser. Er sagt sich, dass derjenige – auch wenn er es vermeiden könnte – der andern durch böse Worte Schaden zufügt, der die Empfindlichkeit eines andern durch seinen Stolz und seine Verachtung verletzt, der nicht vor dem Gedanken zurückweicht, Leid, Unruhe und Unannehmlichkeiten, selbst geringe, zu verursachen, seine Pflicht zur Nächstenliebe vernachlässigt und die Gnade Gottes nicht verdient.
Er hat weder Hass noch Groll noch hegt er Gedanken der Rache. Gemäß Jesu Beispiel vergibt und vergisst er die Beleidigungen und erinnert sich nur an die Wohltaten, weil er weiß, dass ihm vergeben wird, so wie er selber vergeben hat.
Er ist nachsichtig mit den Schwächen anderer, denn er weiß, dass er auch die Nachsicht benötigt, und er erinnert sich an diese Worte Jesu: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.
Er findet keinen Gefallen daran, Fehler anderer zu suchen noch diese öffentlich hervorzuheben. Aber wenn die Notwendigkeit ihn dazu verpflichtet, sucht er immer das Gute, welches das Schlechte abmildern kann.
Er beobachtet seine eigene Unvollkommenheit und arbeitet unaufhörlich daran, sie zu bekämpfen. Alle seine Bemühungen zielen darauf hin, sich selbst am nächsten Tag sagen zu können, dass in ihm irgendetwas besser ist, als am Tag vorher.
Er versucht weder seinen Geist noch seine Begabungen auf Kosten anderer aufzuwerten; er nutzt im Gegenteil jede Gelegenheit, um die Vorteile anderer hervorzuheben. Er ist weder auf sein Vermögen noch auf seine persönlichen Vorteile stolz, weil er weiß, dass alles, was ihm gegeben worden ist, ihm wieder genommen werden kann.
Er gebraucht die Dinge, die ihm gewährt wurden, missbraucht sie aber nicht, weil er weiß, dass sie eine Hinterlegung sind, worüber er Rechenschaft ablegen muss, und dass es die schädlichste Anwendung für ihn selber ist, wenn er sie zur Befriedigung seiner Leidenschaften verwendet.
Falls durch seine gesellschaftliche Position Menschen in seine Abhängigkeit gestellt wurden, behandelt er sie mit Güte und Wohlwollen, weil sie vor Gott seinesgleichen sind. Er benutzt seine Autorität, um sie moralisch zu erheben, anstatt sie mit seinem Stolz zu erdrücken; er vermeidet alles, was ihre untergeordnete Stellung beschwerlicher machen könnte.
Der Untergeordnete versteht seinerseits die Pflichten seiner Stellung und verpflichtet sich, sie gewissenhaft zu erfüllen. (Kap. XVII, Nr. 9)
Der gütige Mensch achtet alle Rechte, die seinesgleichen durch die Naturgesetze gegeben wurden, so wie auch er möchte, dass man sie bei ihm achtet.
Dies ist noch keine Aufzählung aller Eigenschaften, die den gütigen Menschen auszeichnen, aber derjenige, der sich bemüht diese zu besitzen, ist auf dem Weg, der zu all den weitern führt.
Die guten Spiritisten
4. Der Spiritismus, richtig verstanden, aber vor allem tief empfunden, führt zwangsläufig zu den oben erwähnten Ergebnissen, die den wahren Spiritisten, wie den wahren Christen charakterisieren, denn der eine ist wie der andere. Der Spiritismus hat keine neue Moral erschaffen. Er erleichtert den Menschen das Verständnis und die Ausübung der Moral Christi, und gibt denjenigen, die zweifeln oder schwanken, einen starken und aufgeklärten Glauben.
Aber viele von denen, die an die Tatsachen der Kundgebungen glauben, verstehen weder ihre Konsequenzen noch die moralische Tragweite, oder wenn sie sie auch verstehen, wenden sie diese nicht bei sich selbst an. Woran liegt das? Mangelt es an der Klarheit der Lehre? Nein, denn sie beinhaltet weder Allegorien noch Figuren, die Anlass zu falschen Interpretationen geben könnten. Ihr Wesen selbst ist die Klarheit, und darin liegt ihre ganze Kraft, weil sie direkt zur Intelligenz führt. Sie hat nichts Mysteriöses an sich und ihre Eingeweihten sind nicht im Besitz von irgendeinem, dem Volk verborgenen Geheimnis.
Benötigt man also, um sie zu verstehen, eine außergewöhnliche Intelligenz? Nein, denn man sieht Menschen mit hervorragender Intelligenz, die sie nicht verstehen, während Menschen mit gewöhnlicher Intelligenz, sogar junge Leute, kaum aus dem Jugendalter heraus, ihre feinsten Nuancen mit einer bewundernswerten Richtigkeit begreifen. Das kommt daher, dass der gewissermaßen materielle Teil der Wissenschaft nichts anderes erfordert als Augen, um zu beobachten, während der wesentliche Teil einen gewissen Grad an Sensibilität braucht, den man Reife des moralischen Verständnis nennen kann; eine Reife unabhängig vom Alter und Bildungsgrad, da sie auf eine besondere Art unzertrennlich verbunden ist mit der Entwicklung des inkarnierten Geistes.
Bei einigen Menschen sind die Fesseln der Materie immer noch zu stark, um es dem Geist zu gewähren, sich von irdischen Dingen zu lösen. Der Nebel, der sie umgibt, raubt ihnen die Sicht ins Unendliche; deshalb können sie sich nicht so leicht von ihren Neigungen und Gewohnheiten trennen. Sie können nicht verstehen, dass es etwas Besseres gibt, als das, was sie haben. Der Glaube an die Geister ist für sie eine einfache Tatsache, die ihre triebhaften Neigungen nur wenig oder überhaupt nicht verändert. Kurzum, sie sehen nur einen Lichtstrahl, der unzureichend ist, um sie zu führen und in ihnen ein starkes Verlangen zu wecken, das ihre Neigungen verändern könnte. Sie halten sich mehr an dem Phänomen, als an der Moral fest, die ihnen banal und monoton vorkommt. Sie bitten die Geister, sie unaufhörlich in die neuen Geheimnisse einzuweihen, ohne sich zu fragen, ob sie sich dessen würdig gezeigt haben, in die Geheimnisse des Schöpfers eingeweiht zu werden. Dies sind die unvollkommenen Spiritisten, von denen einige auf dem Weg zurückbleiben oder sich von ihren Glaubensbrüdern entfernen, weil sie vor der Pflicht, sich selbst zu verbessern, zurückweichen, oder weil sie gerne ihre Zuneigungen denjenigen vorbehalten, die an ihren Schwächen oder ihren Vorurteilen Anteil nehmen. Die Anerkennung des Grundsatzes der Lehre ist jedoch der erste Schritt, der ihnen den zweiten in einer anderen Existenz leichter machen wird.
Derjenige, den man mit Recht als wahren und ehrlichen Spiritisten qualifizieren kann, befindet sich in einem höheren Grad des moralischen Fortschritts. Der Geist, der die Materie vollständiger beherrscht, gibt ihm eine deutlichere Wahrnehmung der Zukunft. Die Grundsätze der Lehre erwecken bei ihnen Gefühle, die bei den ersteren nicht erregt werden; in einem Wort, er ist in seinem Herz berührt; daher ist auch sein Glaube unerschütterlich. Der eine ist wie ein Musiker, der bei bestimmten Akkorden ergriffen ist, während ein anderer nichts als Töne hört. Man erkennt den wahren Spiritisten an seiner moralischen Veränderung und an den Bemühungen, die er macht, um seine schlechten Neigungen zu beherrschen. Während der eine Gefallen an seinem begrenzten Horizont findet, bemüht sich der andere, der alles etwas besser versteht, sich davon zu lösen, und es gelingt ihm fast immer, wenn er einen starken Willen dazu hat.
Das Gleichnis vom Sämann
5. An jenem Tage verließ Jesus das Haus und setzte sich ans Meer; – um Ihn herum versammelte sich eine große Volksmenge, deshalb stieg Er in ein Boot und nahm darin Platz; und alles Volk stand am Ufer und Er sagte zu ihnen vieles in Gleichnissen. Er sprach:
„Ein Sämann ging aus, um zu säen. Während er säte, fiel ein Teil der Samenkörner auf den Weg, und die Vögel des Himmels kamen und fraßen sie.
Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nicht viel Erde gab, der Samen ging sogleich auf, weil die Erde, wohin er fiel, keine große Tiefe hatte. Als aber die Sonne aufging, trocknete sie ihn aus, und weil er keine Wurzeln hatte, verdorrte er.
Ein anderer Teil fiel in die Dornen, und die Dornen wuchsen hoch und erstickten ihn.
Ein anderer Teil fiel schließlich auf guten Boden und brachte Früchte hervor, aus manchen Körnern gingen hundert hervor, aus anderen sechzig und wieder anderen dreißig.
Derjenige, der Ohren zum Hören hat, höre.“ (Matthäus, Kap. XIII, 1-9)
So hört nun ihr das Gleichnis vom Sämann:
„Zu allen, die das Wort vom Himmelreich hören und nicht darauf achten, kommt das Böse und raubt das, was in sein Herz gesät wurde. Das ist derjenige, der den Samen auf dem Weg erhalten hat.
Derjenige aber, der den Samen inmitten von Steinen erhalten hat, ist derjenige, der das Wort hört und es im gleichen Augenblick mit Freude aufnimmt. Er hat aber keine Wurzeln in sich, daher überlebt es nur für kurze Zeit, und wenn um des Wortes Willen Schwierigkeiten oder Verfolgungen entstehen, nimmt er es als Anlass für Skandal und Untergang.
Der aber, der seinen Samen in den Dornen erhalten hat, ist derjenige, der das Wort hört, aber bei dem sofort die Sorgen dieser Welt und der Trug des Reichtums dieses Wort ersticken und es unfruchtbar machen.
Derjenige aber, der den Samen auf gutem Boden erhalten hat, ist der, der das Wort hört, ihm Aufmerksamkeit schenkt und bei dem es Früchte hervorbringt, hundertfach, sechzigfach oder dreißigfach aus einem einzigen. (Matthäus, Kap. XIII, 18-23)
6. Das Gleichnis des Samens veranschaulicht sehr deutlich die Unterschiede, die in der Art und Weise existieren, je nachdem wie vorteilhaft man die Lehre des Evangeliums nutzt.
Wie viele Menschen gibt es tatsächlich, für die diese Lehre nichts anders ist als tote Worte, die ähnlich dem Samen, der auf den felsigen Boden gefallen ist, keine Frucht hervorbringen!
Das Gleichnis findet eine nicht weniger zutreffende Anwendung bei den verschiedenen Kategorien von Spiritisten. Ist es nicht das Sinnbild von denjenigen, die sich nur an materiellen Phänomenen festhalten und daraus keine Konsequenzen ziehen, weil sie darin nur eine merkwürdige Angelegenheit sehen? Und von denjenigen, die nur den Glanz der Mitteilungen der Geister suchen und die sich nur solange für sie interessieren, bis sie ihre Phantasien befriedigt haben, die aber, nachdem sie sie gehört haben, genauso kalt und gleichgültig wie vorher bleiben? Und ebenso von denjenigen, die die Ratschläge sehr gut finden und sie bewundern, sie aber nur bei den andern anwenden und nicht bei sich selbst? Und schließlich von denjenigen, bei denen die Lehre wie der Samen auf den guten Boden gefallen ist und Früchte hervorbringt?
Unterweisungen der geistigen Welt
Die Pflicht
7. Die Pflicht ist die moralische Verpflichtung des Menschen, zuerst sich selbst gegenüber und danach gegenüber den andern. Die Pflicht ist das Gesetz des Lebens. Wir finden sie in den winzigsten Begebenheiten wie auch in den erhabenen Handlungen. Ich möchte hier nur über die moralische Pflicht sprechen und nicht über die Pflicht, die die Berufe auferlegen.
In der Reihenfolge der Gefühle ist die Pflicht sehr schwer zu erfüllen, weil sie im Gegensatz zu den Verlockungen der Interessen und des Herzens steht. Ihre Siege haben keine Zeugen und ihre Niederlagen erhalten keine Bestrafung. Die innere Pflicht des Menschen ist seinem freien Willen überlassen; der Stachel des Gewissens, dieser Hüter über die innerste Rechtschaffenheit, warnt ihn und unterstützt ihn, aber er zeigt sich sehr oft dem Trugschluss der Leidenschaften gegenüber unfähig. Die Pflicht des Herzens, treu befolgt, erhöht den Menschen. Wie kann man sie aber genau beschreiben? Wo beginnt sie? Wo endet sie? Die Pflicht beginnt genau an dem Punkt, wo ihr das Glück oder die Ruhe eures Nächsten bedroht; sie endet an der Grenze, da, wo ihr nicht wünscht, dass jemand sie - im Hinblick auf euch - überschreitet.
Gott hat, hinsichtlich der Leiden, alle Menschen gleich erschaffen; Kleine oder Große, Unwissende oder Gebildete, alle leiden unter den gleichen Ursachen, damit jeder das Böse, das er anrichten kann, vernünftig beurteilt. Dieses Kriterium besteht nicht für das Gute, das unbegrenzt vielfältiger in seiner Art und Weise ist. Die Gleichheit hinsichtlich des Schmerzes ist eine erhabene Vorsehung Gottes, der möchte, dass SEINE Kinder, durch die allgemeine Erfahrung gebildet, nicht etwas Böses tun, und dann zu behaupten, dessen Auswirkungen nicht zu kennen.
Die Pflicht ist die praktische Zusammenfassung aller moralischen Aktionen; sie ist eine Tapferkeit der Seele, die den Ängsten des Kampfes entgegentritt. Die Pflicht ist streng und sanft; bereit sich vor den verschiedenen Schwierigkeiten zu beugen, bleibt aber unbeugsam vor ihren Versuchungen. Der Mensch, der seine Pflicht erfüllt, liebt Gott mehr als die Menschheit, und die Menschheit mehr als sich selbst. Er ist zugleich Richter und Sklave in seiner eigenen Sache.
Die Pflicht ist das schönste Kleinod der Vernunft; sie geht aus dieser hervor, wie das Kind aus seiner Mutter. Der Mensch muss die Pflicht lieben, nicht, weil sie ihn vor den Leiden des Lebens schützt, denn denen kann sich die Menschheit nicht entziehen, sondern weil sie der Seele die nötige Kraft für ihre Entwicklung gibt.
Die Pflicht wächst und glänzt in erhabener Art und Weise in jeder höheren Entwicklungsstufe der Menschheit. Die moralische Verpflichtung des Menschen gegenüber Gott hört nie auf. Sie muss die Tugenden des Ewigen widerspiegeln, der keinen unvollkommenen Versuch zulässt, weil ER möchte, dass die Schönheit SEINES vor IHM glänzt. (Lazarus, Paris, 1863)
Die Tugend
8. Die Tugend, in ihrem höchsten Grad, beinhaltet die Gesamtheit aller wesentlichen Eigenschaften, die den guten Menschen ausmachen. Gut, barmherzig, fleißig, maßvoll und bescheiden zu sein, sind Eigenschaften des tugendhaften Menschen. Leider werden sie immer von kleinen moralischen Schwächen begleitet, die ihnen schaden und die sie abschwächen. Derjenige, der seine Tugend zur Schau stellt, ist nicht tugendhaft, denn es fehlt ihm die wichtigste Eigenschaft: die Bescheidenheit, und es überwiegt bei ihm das Laster, das im größten Gegensatz dazu steht: Hochmut. Die Tugend, die dieses Namens wahrhaft würdig ist, mag sich nicht damit brüsten; man ahnt sie, aber sie zeigt sich nur im Verborgenen und flieht vor der Bewunderung der Menge. Der heilige Vincent von Paul war tugendhaft; der würdige Pfarrer von Ars war tugendhaft, und viele andere, nahezu unbekannt in der Welt, aber bei Gott bekannt. Alle diese guten Menschen wussten selber nicht, dass sie tugendhaft waren; sie ließen sich von ihren heiligen Eingebungen führen und taten das Gute mit vollständiger Selbstlosigkeit und einem vollkommenen Vergessen ihrer selbst.
Zu einer so verstandenen und angewandten Tugend fordere ich euch auf, meine Kinder; zu dieser wahrhaft christlichen und spiritistischen Tugend ermuntere ich euch. Entfernt aber von euren Herzen den Gedanken des Hochmuts, der Eitelkeit, der Eigenliebe, die den schönsten Eigenschaften schaden. Imitiert nicht jenen Menschen, der sich wie ein Modell darstellt und seine eigenen Qualitäten allen ihm gegenüber gefälligen Ohren rühmt. Diese großtuerische Tugend verbirgt oft eine Menge kleiner Schandtaten und hässliche Feigheiten.
Der Mensch, der sich selbst preist, der seiner eigenen Tugend eine Statue errichtet, annulliert durch diese einfache Handlung das tatsächliche Verdienst, das er haben könnte. Was würde ich dann über denjenigen sagen, dessen ganzes Ziel es ist, sich als jemand auszugeben, der er nicht ist? Ich möchte wohl zugeben, dass der Mensch, der das Gute tut, eine innerliche Genugtuung ganz tief in seinem Herz empfindet; aber sobald diese Genugtuung sich äußert, um Lob zu empfangen, artet sie in Eigenliebe aus.
Oh, ihr alle, die der spiritistische Glaube mit seinen Strahlen erwärmt hat, und die ihr wisst, wie weit der Mensch von der Vollkommenheit entfernt ist, gebt euch nie zu solcher Unvernunft hin. Die Tugend ist eine Gnade, die ich allen ehrsamen Spiritisten wünsche, aber ich werde euch sagen: Besser weniger Tugenden mit Bescheidenheit, als viele mit Hochmut. Durch den Hochmut konnte es geschehen, dass die Menschheit sich nach und nach ins Verderben gestürzt hat; und nur durch Demut werden sie eines Tages erlöst werden. (François Nicolas Madeleine, Paris, 1863).
Vorgesetzte und Untergebene
9. Die Autorität ebenso wie der Reichtum ist ein Auftrag, über den man demjenigen, der einen damit beauftragt hat, Rechenschaft ablegen muss. Glaubt nicht, dass sie ihm übertragen wurde, um ihm das belanglose Vergnügen des Befehlens zu verschaffen, auch nicht – wie fälschlicherweise die Mehrheit der Mächtigen der Erde glaubt – als ein Recht, ein Eigentum. Gott zeigt ihnen jedoch oft genug, dass dies weder das eine noch das andere ist, da ER sie ihnen entzieht, wann immer IHM dies gefällt. Wenn es sich um ein an ihre Person gebundenes Privileg handeln würde, wäre sie unübertragbar. Niemand kann sagen, dass eine Sache ihm gehört, wenn sie ihm ohne sein Einverständnis weggenommen werden kann. Gott gibt die Autorität als Auftrag oder Prüfung, wie es IHM gefällt, und entzieht sie in gleicher Weise.
Wer auch immer Autorität besitzt, egal von welcher Reichweite sie auch sei – vom Herrn über seinen Diener bis zum Herrscher über sein Volk – soll sich im Klaren darüber sein, dass er Seelen in seiner Obhut hat. Er wird für die gute oder schlechte Führung, die er seinen Untergeordneten gegeben hat, verantwortlich sein; und die Fehler, die sie begehen könnten, wie auch die Laster, zu denen sie infolge dieser Führung oder den schlechten Beispielen hingerissen wurden, werden auf ihn zurückfallen; während er die Früchte der Hilfsbereitschaft ernten wird, wenn er sie zum Guten geführt hat. Jeder Mensch hat auf der Welt eine kleine oder große Aufgabe. Was für eine sie auch sei, sie wird immer für das Gute gegeben. Man begeht einen Fehler, wenn man sie im Grundsatz verfälscht.
Wenn Gott den Reichen fragt: Was hast du aus dem Vermögen gemacht, das in deinen Händen eine Quelle der Fruchtbarkeit war, die du um dich herum hättest ausstreuen sollen? ER wird denjenigen, der irgendeine Autorität besitzt, fragen: Welchen Gebrauch hast du von dieser Autorität gemacht? Welches Übel hast du verhindert? Welchen Fortschritt hast du gefördert? Wenn ich dir Untergebene gegeben habe, war es nicht, um aus ihnen Sklaven deines Willens zu machen, auch nicht fügsame Instrumente deiner Launen und deiner Habgier. Ich habe dich stark gemacht und ich habe dir die Schwachen anvertraut, damit du sie unterstützt und ihnen hilfst, zu mir heraufzusteigen.
Der Vorgesetzte, der von dem Wort Christi überzeugt ist, verachtet keinen von denjenigen, die unter ihm sind, weil er weiß, dass die gesellschaftlichen Unterschiede vor Gott nicht bestehen. Der Spiritismus lehrt sie, dass wenn sie ihm heute gehorchen, sie ihm schon vorher befohlen haben können oder sie ihm später befehlen können, und dass er dann so behandelt wird, wie er selbst sie behandelt hat.
Wenn aber der Vorgesetzte Pflichten zu erfüllen hat, hat der Untergebene seinerseits auch solche zu erfüllen, die nicht weniger ehrwürdig sind. Wenn dieser letztere Spiritist ist, wird ihm sein Gewissen noch deutlicher sagen, dass er nicht von seinen Pflichten befreit ist, auch wenn sein Chef seine eigenen selbst nicht erfüllt, weil er weiß, dass man Böses nicht mit Bösem vergelten soll, und dass die Fehler der einen nicht zu den Fehlern der andern berechtigt. Wenn er unter seiner Position leidet, sagt er sich, dass er sie ohne Zweifel verdient hat, weil er selbst vielleicht früher seine Autorität missbraucht hat, und dass er jetzt seinerseits alle Unannehmlichkeiten spüren soll, mit denen er anderen Leid zugefügt hat. Wenn er gezwungen ist, diese Position zu ertragen, aus Mangel eine bessere zu finden, lehrt der Spiritismus ihn, sich damit abzufinden als eine Prüfung für seine Demut, die notwendig für seinen Fortschritt ist. Sein Glaube leitet ihn in seinem Verhalten; er handelt so, wie er möchte, dass seine Untergebenen ihm gegenüber handeln sollten, falls er Chef wäre. Deshalb ist er gewissenhafter bei der Erfüllung seiner Pflichten, weil er versteht, dass alle Nachlässigkeit bei der ihm anvertrauten Arbeit ein Schaden für denjenigen sein wird, der ihn bezahlt, und dem er seinerseits seine Arbeitszeit und Sorgfalt schuldet. Kurzum, er wird von dem Pflichtbewusstsein gefordert, das ihm sein Glauben gibt, und die Gewissheit, dass jegliche Abweichung vom rechten Weg eine Schuld ist, die er früher oder später bezahlen muss. (François Nicolas Madeleine, Kardinal Morlot, Paris, 1863)
Der Mensch auf der Welt
10. Ein Gefühl der Frömmigkeit sollte immer das Herz derer erfüllen, die sich unter den Augen des Herrn versammeln und den Beistand der guten Geister erflehen. Reinigt daher eure Herzen; lasst darin keinen weltlichen oder belanglosen Gedanken verweilen. Erhebt euren Geist zu jenen, die ihr ruft, damit diese, damit sie bei euch die notwendige Veranlagung vorfinden, um in reichem Maße Samen werfen können, der in euren Herzen keimen und Früchte der Nächstenliebe und Gerechtigkeit hervorbringen soll.
Aber glaubt nur nicht, dass wir – indem wir euch unaufhörlich zum Gebet und zur mentalen Anrufung auffordern, euch dazu verpflichten, ein mystisches Leben zu führen, das euch außerhalb der Gesetze der Gesellschaft hält, in der ihr zu leben gezwungen seid. Nein, lebt mit den Menschen eurer Epoche, wie alle Menschen leben sollen; opfert euch den Bedürfnissen, sogar den Oberflächlichkeiten des Tages, aber opfert euch mit einem Gefühl der Reinheit, das sie heiligen kann.
Ihr seid aufgerufen, in Kontakt mit Geistern verschiedener Art zu treten, von gegensätzlichen Charakteren: Verletzt keinen von denjenigen, denen ihr begegnet. Seid fröhlich, seid glücklich, aber mit einer Fröhlichkeit, die ein gutes Gewissen verleiht, mit dem Glück eines Erben des Himmels, der die Tage zählt, die ihn seiner Erbschaft näher bringen.
Die Tugend besteht nicht darin, einen ernsten und traurigen Anblick zu bieten, alle Vergnügen zurückzuweisen, die euer Menschsein euch erlauben; es genügt, alle Handlungen eures Lebens in Beziehung zu dem Schöpfer zu bringen, der dieses Leben gegeben hat; es genügt, wenn man ein Werk beginnt oder beendet, seine Gedanken an Gott zu richten und ihn mit der Kraft der Seele zu bitten, entweder um SEINE Protektion für eine erfolg reiche Tätigkeit, oder um SEINEN Segen für das beendete Werk. Was immer ihr tut, kommt immer auf den Ursprung aller Dinge zurück; tut niemals etwas, ohne dass der Geist Gottes eure Handlungen reinigt und heiligt.
Die Vollkommenheit liegt ganz und gar in der Ausübung der absoluten Nächstenliebe, wie Christus gesagt hat; aber die Pflichten der Nächstenliebe erstrecken sich über alle sozialen Positionen, von den allerniedrigsten bis zu den allerhöchsten. Der Mensch, der allein leben würde, hätte keine Nächstenliebe auszuüben; er findet nur im Kontakt mit seinen Mitmenschen, in schmerzlichsten Kämpfen, die Gelegenheit dazu. Jener also, der sich isoliert, entzieht sich willentlich dem stärksten Mittel der Perfektion; da er nur an sich selber zu denken hat, ist sein Leben das eines Egoisten. (Kap. V, Nr. 26)
Bildet euch daher nicht ein, dass man sich mit dem Büßerhemd bekleiden und sich mit Asche bedecken müsste, um in ständiger Verbindung mit uns leben zu können; nein, nein und noch einmal nein. Seid glücklich gemäß den menschlichen Notwendigkeiten, aber macht, dass in euer Glück weder ein Gedanke noch eine Handlung eindringt, die das Angesicht jener beleidigen oder trüben würden, die euch lieben und leiten. Gott bedeutet Liebe und segnet jene, die IHN auf fromme Weise lieben. (Ein Schutzgeist, Bordeaux, 1863)
Körper und Geist pflegen
11. Besteht die moralische Vollkommenheit in der Kasteiung des Körpers? Um diese Frage zu lösen, stütze ich mich auf die elementaren Prinzipien und beginne damit, die Notwendigkeit der Körperpflege aufzuzeigen, die gemäß den Alternativen von Gesundheit und Krankheit einen sehr großen Einfluss auf die Seele hat, die man als Gefangene des Fleisches betrachten muss. Damit diese Gefangene leben, bewegen und sich sogar Illusionen von Freiheit machen kann, muss der Körper gesund sein, ausgeruht und kräftig. Folgen wir dem Vergleich: Beide befinden sich in perfektem Zustand; was müssen sie tun, um das Gleichgewicht zwischen ihren so unterschiedlichen Begabungen und Bedürfnissen aufrecht zu erhalten?
Hier gibt es zwei Systeme, die sich gegenüber stehen: Jenes der Asketen, die ihren Körper bezwingen wollen, und jenes der Materialisten, die die Seele erniedrigen wollen. Zwei Gewaltanwendungen, die beide fast ebenso unsinnig sind, die eine wie die andere. An der Seite dieser großen Parteien wimmelt es von einer großen Anzahl Gleichgültiger, die weder mit Überzeugung noch mit Leidenschaft, sondern halbherzig lieben und sparsam genießen. Wo ist da die Weisheit? Wo ist da die Lebenskunst? Nirgendwo; und dieses große Problem bliebe ganz und gar ungelöst, wenn der Spiritismus hier den Suchenden nicht zu Hilfe käme, indem er ihnen die zwischen Körper und Seele bestehenden Beziehungen aufzeigt und indem er sagt, dass man sie beide pflegen muss, weil sie sich gegenseitig benötigen. Liebt daher eure Seele, aber pflegt auch euren Körper, das Instrument der Seele; die Bedürfnisse zu verkennen, die von der Natur selber aufgezeigt werden, würde bedeuten, das Gesetz Gottes zu verkennen. Bestraft ihn nicht für Fehler, die euer freier Wille ihn hat begehen lassen und für die er ebenso unverantwortlich ist, wie das schlecht geführte Pferd für die von ihm verursachten Unfälle. Seid ihr dann vollkommener, wenn ihr – euren Körper quälend – aber nicht weniger egoistisch, hochmütig und unbarmherzig zu eurem Nächsten seid? Nein, da liegt nicht die Vollkommenheit. Sie liegt allein in der Verbesserung, die ihr eurem Geist zukommen lasst. Beugt ihn, unterwerft ihn, demütigt ihn und kasteit ihn; das ist das Mittel, um ihn dem Willen Gottes fügsam zu machen, und das einzige, das zur Vollkommenheit führt. (Georges, Schutzgeist, Paris, 1863)