Auferstehung und Reinkarnation
4. Die Reinkarnation gehörte unter dem Namen „Auferstehung“ zu den Dogmen der Juden. Nur die Sadduzäer, für welche der Tod das Ende bedeutete, glaubten nicht daran. Die Vorstellungen der Juden über diesen und viele andere Punkte waren nicht klar definiert, denn sie hatten ganz verschwommene und unvollständige Kenntnisse in Bezug auf die Seele und ihrer Verbindung mit dem Körper. Sie glaubten daran, dass ein Mensch, der gelebt hat, wiederkehren konnte, ohne sich genau bewusst zu sein, wie dies geschehen würde. Sie bezeichneten als Auferstehung das, was der Spiritismus verständlicherweise die „Reinkarnation“ nennt. In der Tat setzt die Auferstehung voraus, dass das Leben in den bereits verstorbenen Körper zurückkommt, was jedoch die Wissenschaft als materiell unmöglich nachweist, besonders wenn sich die Körperbestandteile seit langem aufgelöst und aufgezehrt haben. Die Reinkarnation ist die Rückkehr der Seele oder des Geistes in das physische Leben, aber in einen neuen, speziell für ihn geformten Körper, der mit dem alten nichts gemein hat. Das Wort Auferstehung konnte somit bei Lazarus Anwendung finden, aber nicht bei Elia und anderen Propheten. Wenn, ihrem Glauben nach, Johannes der Täufer Elia war, konnte der Körper des Johannes nicht der von Elia sei, denn Johannes hatte man schon als kleines Kind gesehen und die Eltern waren bekannt. Johannes konnte also nur die Wiederverkörperung von Elia sein, aber nicht seine Auferstehung.
5. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern namens Nikodemus, ein Ratsherr der Juden, der bei Nacht zu Jesus kam und zu Ihm sagte: „Meister, wir wissen, dass Du von Gott gesandt wurdest, um uns wie ein Gelehrter zu unterrichten, denn niemand könnte diese Wunder vollziehen wie Du, es sei denn, Gott ist mit ihm.“
Jesus antwortete ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: keiner kann das Reich Gottes sehen, wenn er nicht wiedergeboren wird.“
Nikodemus sagte Ihm: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, wiedergeboren werden? Kann er etwa zum zweiten Mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden?“
Jesus entgegnete: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und aus dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte, dass ihr wiedergeboren werden müsst. Der Geist weht, wo er will, und du hörst seine Stimme, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so ist es auch mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“
Nikodemus antwortete Ihm: „Wie kann dies geschehen? – Jesus sagte zu ihm: Was! Du bist ein Lehrer Israels und kennst diese Dinge nicht? – Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wir reden nur das, was wir wissen, und bezeugen nur das, was wir gesehen haben. Unterdessen, nimmst du unser Zeugnis nicht an. Aber wenn du mir nicht glaubst, wenn ich zu dir über die irdischen Dinge rede, wie wirst du mir dann glauben schenken, wenn ich dir über die himmlischen Dinge berichte?“ (Johannes, Kap. III, 1-12)
6. Die Vorstellung, dass Johannes der Täufer einst Elia war und dass die Propheten in ein Leben auf Erden zurückkehren konnten, findet man an vielen Stellen der Evangelien, insbesondere an den oben erwähnten (1., 2. und 3.). Wenn dieser Glaube falsch gewesen wäre, hätte Jesus ihn bekämpft, wie Er vieles andere bekämpft hat. Im Gegenteil bestätigt Er mit seiner ganzen Autorität diesen Glauben und nimmt ihn als Grundsatz und Voraussetzung, wenn Er sagt: „Keiner kann das Reich Gottes sehen, wenn er nicht wiedergeboren wird“. Er beharrt darauf und fügt hinzu: „Wundere dich nicht über das, was ich sage, dass ihr wiedergeboren werden müsst.“
7. Diese Worte: „Wenn ein Mensch nicht aus dem Wasser und aus dem Geist wiedergeboren wird“ wurden im Sinne der Erneuerung durch das Wasser der Taufe interpretiert. Aber, der ursprüngliche Text lautete einfach: „nicht aus dem Wasser und aus dem Geist wiedergeboren“, während in einigen Übersetzungen die Worte „aus dem Geist“ ersetzt wurden durch die Worte „aus dem heiligen Geist“, was nicht demselben Gedanken entspricht. Dieser wesentliche Punkt stammt aus den ersten Erläuterungen, die über das Evangelium gemacht wurden, was man eines Tages gegen jeden Irrtum erhaben feststellen wird. *
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* Bemerkung: Die Übersetzung von Osterwald stimmt mit dem Ursprungstext überein; dort steht: nicht aus dem Wasser und aus dem Geist wiedergeboren; die von Sacy sagt: vom Heiligen Geist; jene von Lamennais: der Geist-Heiliger.
8. Um den wahren Sinn dieser Äußerungen verstehen zu können, muss man auch die Bedeutung des Wortes „Wasser“ beachten, das nicht in seiner Grundbedeutung benutzt wurde.
Die Kenntnisse der Menschen jener Zeit über die Wissenschaft der Physik waren sehr unvollkommen. Sie glaubten, dass die Erde aus dem Wasser entstanden sei und hielten das Wasser deswegen für ein absolut schöpferisches Element. In der Genesis steht es so geschrieben: “Der Geist Gottes wurde über die Wasser gebracht; schwebte über den Wassern. Möge das Firmament mitten im Wasser entstehen; mögen die Gewässer, die sich unter dem Himmel befinden, sich an einem einzigen Ort sammeln und das trockene Element erscheinen lassen; mögen die Gewässer sowohl lebende Tiere, die im Wasser schwimmen, als auch Vögel, die auf der Erde und unter dem Firmament fliegen, entstehen lassen.“
Nach diesem Glauben war das Wasser zum Symbol der materiellen Natur wie auch der Geist zum Symbol der intelligenten Natur geworden. Diese Worte: „Wenn der Mensch nicht aus dem Wasser und aus dem Geist oder im Wasser und im Geist wiedergeboren wird“, bedeuten also: „Wenn der Mensch nicht mit seinem Körper und seiner Seele wiedergeboren wird“. In diesem Sinne hat man am Anfang diese Worte verstanden.
Diese Interpretation ist ohnehin durch andere Worte gerechtfertigt: „Was aus dem Fleisch geboren wird, ist Fleisch und was aus dem Geist geboren wird, ist Geist“. Jesus macht hier einen positiven Unterschied zwischen Geist und Körper. „Was aus dem Fleisch geboren wird, ist Fleisch“ zeigt ganz deutlich, dass nur der Körper aus dem Körper stammt, und dass der Geist von diesem unabhängig ist.
9. „Der Geist weht, wo er will und ihr hört seine Stimme, aber ihr wisst nicht, woher er kommt und wohin er geht“: kann verstanden werden als der Geist Gottes, welcher das Leben schenkt wem ER will, oder als die Seele des Menschen. In diesem letzten Sinne: „Ihr wisst nicht, woher er kommt und wohin er geht“ besagt, dass niemand weiß, weder was der Geist war noch was der Geist sein wird. Wenn der Geist oder die Seele gleichzeitig mit dem Körper geschaffen wäre, wüsste man woher er stammt, da man seinen Ursprung kennen würde. Wie dem auch sein mag, diese Stelle ist die Anerkennung des Prinzips der Vorexistenz der Seele und folglich das Prinzip der Pluralität der Existenzen.
10. Aber seit der Zeit von Johannes dem Täufer bis heute, wird das Himmelreich mit Gewalt beansprucht und gewaltsame Menschen versuchen es an sich zu reißen. Denn hin bis zu Johannes haben alle Propheten sowie das Gesetz Prophezeiungen gemacht und wenn ihr verstehen wollt, was ich euch sage: „Er ist selber der Elia, der kommen soll. Derjenige, der Ohren hat zum Hören, der höre.“ (Matthäus, Kap. XI, 12-15)
11. Wenn das Prinzip der Wiedergeburt, wie es bei Johannes steht, streng genommen in einem puren mystischen Sinne interpretiert werden könnte, ist bei Matthäus, dessen Text kein Missverständnis zulässt, diese Art der Interpretation nicht möglich. „Er ist selber der Elia, der kommen soll“; hier gibt es weder Gestalt noch Allegorie: es ist eine positive Feststellung. „Seit der Zeit von Johannes dem Täufer bis jetzt, wird das Himmelreich mit Gewalt beansprucht.“ Was bedeuten diese Worte, da Johannes der Täufer zu dieser Zeit noch lebte? Jesus erklärt dies, indem Er sagt: „Wenn ihr es verstehen wollt, was ich euch sage: er ist selber der Elia, der kommen soll“. Also, da Johannes kein anderer als Elia war, weist Jesus auf die Zeiten hin, in denen Johannes unter dem Namen Elia lebte. „Bis jetzt wird das Himmelreich mit Gewalt beansprucht“ ist ein weiterer Hinweis auf die Gewaltanwendung des mosaischen Gesetzes, welches die Vernichtung der Ungläubigen anordnete, um das versprochene Land, das Paradies der Hebräer, zu gewinnen, während nach dem neuen Gesetz der Himmel durch Nächstenliebe und Sanftmut gewonnen werden kann.
Und Er fügte hinzu: „Derjenige, der Ohren hat zum Hören, der höre“. Diese Worte, die Jesus so oft wiederholte, sagen deutlich, dass nicht alle in der Lage waren, gewisse Wahrheiten zu verstehen.
12. Diejenigen von eurem Volk, die man getötet hat, werden wieder leben; diejenigen, die um mich herum gestorben sind, werden auferstehen. Erwacht aus eurem Schlaf und lobpreist Gott, ihr Bewohner des Staubs; denn der Tau, welcher über euch fällt ist ein Tau des Lichts, und die Erde gibt die Toten heraus. (Jesaja, Kap. XXVI, 19)
13. Auch diese Stelle von Jesaja ist sehr deutlich: „Diejenigen von eurem Volk, die man getötet hat, werden wieder leben“. Wenn der Prophet über das geistige Leben Bescheid gewusst hätte, wenn er vorgehabt hätte es zu sagen, dass diejenigen, die hingerichtet wurden, nicht im Geist tot waren, hätte er gesagt “sie leben noch“ und nicht „sie werden wieder leben“. Im spirituellen Sinne sind diese Worte widersinnig, denn sie würden eine Unterbrechung des Lebens der Seele bedeuten. Im Sinne der moralischen Erneuerung sind sie die Verneinung der ewigen Leiden, denn diese Worte beweisen im Prinzip, dass all diejenigen, die tot sind, wieder lebendig werden.
14. Aber, wenn der Mensch, der bereits einmal gestorben und sein Körper von seinem Geist getrennt und aufgezehrt ist, was ist aus ihm geworden? Kann der Mensch, der bereits einmal gestorben ist, wiedergeboren werden? In diesem Kampf, in dem ich mich jeden Tag meines Lebens befinde, erwarte ich, dass meine Veränderung eintritt. (Hiob, Kap. XIV, 10,
14. Übersetzung von „Le Maistre de Sacy“) Wenn der Mensch stirbt, verliert er seine ganze Kraft, er ist tot. Wo ist er danach? Wenn der Mensch stirbt, wird er wieder leben? Werde ich jeden Tag meines Kampfes warten bis zu dem Tag, an dem irgendeine Veränderung eintritt? (Protestantische Übersetzung von Osterwald)
Wenn der Mensch gestorben ist, lebt er weiter; wenn die Tage meiner irdischen Existenz zu Ende sein werden, werde ich warten, denn zu ihr werde ich zurückkehren. (Version der griechischen Kirche)
15. In diesen drei Versionen ist das Prinzip der Pluralität der Existenzen deutlich ausgedrückt. Man kann nicht annehmen, dass Hiob über die Erneuerung durch das Taufwasser hätte sprechen wollen, die er gewiss nicht kannte. „Konnte der Mensch, der bereits einmal gestorben war, wiedergeboren werden?“ Der Gedanke zu sterben und wiedergeboren zu werden, bedeutet: sterben und mehrmals wiedergeboren zu werden. Die Version der griechischen Kirche ist noch deutlicher, falls das überhaupt möglich ist: „Wenn die Tage meiner irdischen Existenz zu Ende sein werden, werde ich warten, denn zu ihr werde ich zurückkehren“, d.h.: „Ich werde zur irdischen Existenz zurückkehren“. Das ist so klar, als ob jemand sagt: „Ich gehe aus meinem Haus, aber ich werde dorthin zurückkehren.“
„In diesem Kampf, in dem ich mich jeden Tag meines Lebens befinde, erwarte ich, dass meine Veränderung kommt.“ Hiob meint natürlich damit den Kampf, den er gegen das Elend des Lebens führt. Er wartet auf seine Veränderung, d.h. er findet sich damit ab. In der griechischen Version: „Ich werde warten“, scheint eher von einer neuen Existenz die Rede zu sein. Es scheint, dass Hiob mit seinen Worten: „Wenn die Tage meiner irdischen Existenz zu Ende sein werden, werde ich warten, denn zu ihr werde ich zurückkehren“, meint, dass er nach seinem Tod irgendwo eine Zeit zwischen der eben abgeschlossenen und einer neuen Existenz auf dieser Erde verbringen wird und sagt, dass er dort auf seine Rückkehr warten wird.
16. Es ist somit nicht daran zu zweifeln, dass unter dem Namen „Auferstehung“ das Prinzip der Wiedergeburt einer der Hauptglaubensgrundsätze der Juden war, und das haben Jesus und die Propheten in einer förmlichen Art und Weise bestätigt; daraus ist zu folgern, dass die Reinkarnation zu verneinen gleichbedeutend ist mit der Ablehnung der Worte Christi. Seine Worte werden eines Tages Autorität in diesem, wie auch in vielen anderen Punkten haben, wenn ohne Vorurteile über sie nachgedacht wird.
17. Aber zu dieser Autorität, was den religiösen Gesichtspunkt angeht, fügt man die Beweise aus der philosophischen Sicht hinzu, die sich aus der Beobachtung der Tatsachen ergeben. Wenn es darum geht, von den Wirkungen auf die Ursachen zurückzugehen, erscheint die Reinkarnation als eine absolute Notwendigkeit und eine der Menschheit innewohnenden Gegebenheit; kurz gesagt: als ein Naturgesetz. Sie offenbart sich durch ihre Ergebnisse in einer sozusagen materielle Form, wie ein verborgener Motor, der sich durch die Bewegung offenbart. Nur die Reinkarnation kann dem Menschen klar machen, „woher er kommt, wohin er geht, warum er auf der Erde ist“ sowie alle Anomalien und alle scheinbaren Ungerechtigkeiten, die das Leben mit sich bringt, rechtfertigen. *
Ohne das Prinzip der Vorexistenz der Seele und die Pluralität der Existenzen sind die Maximen des Evangeliums zum großen Teil unverständlich. Deswegen sind widersprüchliche Interpretationen vorgekommen. Dieses Prinzip ist der Schlüssel, der ihnen den wahren Sinn zurückgeben soll.
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* Um das Dogma der Reinkarnation zu studieren, sollte man folgende Bücher lesen: „Das Buch der Geister“, Kap. IV und V; – „Über das Wesen des Spiritismus“, Kap. II, von Allan Kardec und – „Die Pluralität der Existenzen“, von Pezzani