DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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4. Der Spiritismus, richtig verstanden, aber vor allem tief empfunden, führt zwangsläufig zu den oben erwähnten Ergebnissen, die den wahren Spiritisten, wie den wahren Christen charakterisieren, denn der eine ist wie der andere. Der Spiritismus hat keine neue Moral erschaffen. Er erleichtert den Menschen das Verständnis und die Ausübung der Moral Christi, und gibt denjenigen, die zweifeln oder schwanken, einen starken und aufgeklärten Glauben.



Aber viele von denen, die an die Tatsachen der Kundgebungen glauben, verstehen weder ihre Konsequenzen noch die moralische Tragweite, oder wenn sie sie auch verstehen, wenden sie diese nicht bei sich selbst an. Woran liegt das? Mangelt es an der Klarheit der Lehre? Nein, denn sie beinhaltet weder Allegorien noch Figuren, die Anlass zu falschen Interpretationen geben könnten. Ihr Wesen selbst ist die Klarheit, und darin liegt ihre ganze Kraft, weil sie direkt zur Intelligenz führt. Sie hat nichts Mysteriöses an sich und ihre Eingeweihten sind nicht im Besitz von irgendeinem, dem Volk verborgenen Geheimnis.


Benötigt man also, um sie zu verstehen, eine außergewöhnliche Intelligenz? Nein, denn man sieht Menschen mit hervorragender Intelligenz, die sie nicht verstehen, während Menschen mit gewöhnlicher Intelligenz, sogar junge Leute, kaum aus dem Jugendalter heraus, ihre feinsten Nuancen mit einer bewundernswerten Richtigkeit begreifen. Das kommt daher, dass der gewissermaßen materielle Teil der Wissenschaft nichts anderes erfordert als Augen, um zu beobachten, während der wesentliche Teil einen gewissen Grad an Sensibilität braucht, den man Reife des moralischen Verständnis nennen kann; eine Reife unabhängig vom Alter und Bildungsgrad, da sie auf eine besondere Art unzertrennlich verbunden ist mit der Entwicklung des inkarnierten Geistes.


Bei einigen Menschen sind die Fesseln der Materie immer noch zu stark, um es dem Geist zu gewähren, sich von irdischen Dingen zu lösen. Der Nebel, der sie umgibt, raubt ihnen die Sicht ins Unendliche; deshalb können sie sich nicht so leicht von ihren Neigungen und Gewohnheiten trennen. Sie können nicht verstehen, dass es etwas Besseres gibt, als das, was sie haben. Der Glaube an die Geister ist für sie eine einfache Tatsache, die ihre triebhaften Neigungen nur wenig oder überhaupt nicht verändert. Kurzum, sie sehen nur einen Lichtstrahl, der unzureichend ist, um sie zu führen und in ihnen ein starkes Verlangen zu wecken, das ihre Neigungen verändern könnte. Sie halten sich mehr an dem Phänomen, als an der Moral fest, die ihnen banal und monoton vorkommt. Sie bitten die Geister, sie unaufhörlich in die neuen Geheimnisse einzuweihen, ohne sich zu fragen, ob sie sich dessen würdig gezeigt haben, in die Geheimnisse des Schöpfers eingeweiht zu werden. Dies sind die unvollkommenen Spiritisten, von denen einige auf dem Weg zurückbleiben oder sich von ihren Glaubensbrüdern entfernen, weil sie vor der Pflicht, sich selbst zu verbessern, zurückweichen, oder weil sie gerne ihre Zuneigungen denjenigen vorbehalten, die an ihren Schwächen oder ihren Vorurteilen Anteil nehmen. Die Anerkennung des Grundsatzes der Lehre ist jedoch der erste Schritt, der ihnen den zweiten in einer anderen Existenz leichter machen wird.


Derjenige, den man mit Recht als wahren und ehrlichen Spiritisten qualifizieren kann, befindet sich in einem höheren Grad des moralischen Fortschritts. Der Geist, der die Materie vollständiger beherrscht, gibt ihm eine deutlichere Wahrnehmung der Zukunft. Die Grundsätze der Lehre erwecken bei ihnen Gefühle, die bei den ersteren nicht erregt werden; in einem Wort, er ist in seinem Herz berührt; daher ist auch sein Glaube unerschütterlich. Der eine ist wie ein Musiker, der bei bestimmten Akkorden ergriffen ist, während ein anderer nichts als Töne hört. Man erkennt den wahren Spiritisten an seiner moralischen Veränderung und an den Bemühungen, die er macht, um seine schlechten Neigungen zu beherrschen. Während der eine Gefallen an seinem begrenzten Horizont findet, bemüht sich der andere, der alles etwas besser versteht, sich davon zu lösen, und es gelingt ihm fast immer, wenn er einen starken Willen dazu hat.