Kindesliebe
3. Das Gebot: „Ehre Deinen Vater und Deine Mutter“ ist eine Folge des allgemeinen Gesetzes der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, da man seinen Nächsten nicht lieben kann, ohne seinen Vater und seine Mutter zu lieben. Das Wort ehre beinhaltet eine weitere Pflicht ihnen gegenüber: die der Kindesliebe. Gott wollte uns damit zeigen, dass man zur Liebe den Respekt, die Aufmerksamkeiten, den Gehorsam und die Willfährigkeit hinzufügen muss, was die Verpflichtung einschließt, den Eltern gegenüber alles zu erfüllen, auf eine noch strengere Art, alles was die Nächstenliebe hinsichtlich dem Nächsten vorschreibt. Diese Pflicht überträgt sich selbstverständlich auch auf die Menschen, die den Vater und die Mutter ersetzen und deren Verdienst umso größer ist, da ihre Aufopferung weniger verpflichtend ist. Gott bestraft stets auf eine strenge Art jegliche Verletzung dieses Gebots.
Den Vater und die Mutter zu ehren, bedeutet nicht nur, sie zu respektieren, sondern ihnen auch in der Not beizustehen; ihnen Ruhe in ihrem Alter zu ermöglichen, sie mit Fürsorge zu umgeben, wie sie es für uns in unserer Kindheit getan haben.
Insbesondere gegenüber mittellosen Eltern zeigt sich die wahre Kindesliebe. Erfüllen diejenigen dieses Gebot, die glauben, sich groß angestrengt zu haben, indem sie ihnen gerade nur so viel geben, damit sie nicht vor Hunger sterben, während sie selbst auf nichts verzichten? Indem sie ihre Eltern in die winzigste Kammer des Hauses verbannen, um sie nicht auf der Straße zu lassen, während sie für sich das Beste und das Bequemste vorbehalten?
Es ist noch ein Glück, wenn sie das nicht mit Widerwillen machen und die Eltern nicht dazu verpflichtet werden, die ihnen zum Leben verbleibende Zeit dadurch zu erkaufen, dass sie sich dafür die anstrengende Hausarbeit aufladen! Ist es denn gerecht, dass alte und schwache Eltern Diener ihrer jungen und starken Kinder sein sollen? Hat die Mutter mit ihnen um ihre Milch gefeilscht, als sie in der Wiege lagen? Als sie krank waren, hat die Mutter da ihre Nachtwachen oder ihre Schritte gezählt, um ihnen zu besorgen, was sie benötigten? Nein, es ist nicht nur das Notwendigste, was die Kinder ihren armen Eltern schulden, sondern, soweit sie es vermögen, die kleinen Freuden des Überflusses, die Liebenswürdigkeiten, die zarte Pflege, die nur die Zinsen für das sind, was sie selbst erhalten haben, die Bezahlung einer heiligen Schuld. Nur das ist die Kindesliebe, die von Gott anerkannt wird.
Wehe aber demjenigen, der vergisst, was er denen schuldet, die ihn in seiner Schwäche unterstützten, die ihm mit dem materiellen Leben auch das seelische Leben schenkten und sehr oft auf vieles verzichteten, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. Wehe demjenigen, der undankbar ist, denn er wird durch Undankbarkeit und Verlassen bestraft; er wird in allem, was ihm lieb und teuer ist, verletzt werden, manchmal schon im gegenwärtigen Leben, aber mit Sicherheit in einer anderen Existenz, wo er ertragen muss, was er andern angetan hat.
Gewiss gibt es manche Eltern, die ihre Pflicht vernachlässigen und nicht für ihre Kinder das sind, was sie sein sollten. Aber es obliegt Gott, sie zu bestrafen und nicht ihren Kindern. Es obliegt nicht den Kindern sie zu tadeln, denn sie haben es vielleicht verdient, dass es so ist. Wenn die Nächstenliebe ein Gebot vorschreibt, das Böse mit dem Guten zu erwidern, nachsichtig zu sein mit der Unvollkommenheit der andern, seinen Nächsten nicht zu verleumden, dessen Fehler zu vergessen und zu verzeihen, sogar die Feinde zu lieben, um wie viel größer ist dann die Verpflichtung der Kinder ihren Eltern gegenüber! Die Kinder müssen daher als Verhaltensregeln den Eltern gegenüber, die Gebote Jesu annehmen und sich daran erinnern, dass jegliches tadelnswerte Verhalten den Fremden gegenüber noch tadelnswerter den Eltern gegenüber ist; und dass das, was im ersten Fall vielleicht nur ein Fehler gewesen wäre, im zweiten Fall zum Verbrechen werden kann, weil in diesem Fall zu der mangelnden Nächstenliebe noch die Undankbarkeit hinzukommt.
4. Gott sagte: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange in dem Lande leben wirst, das der Herr, dein Gott, dir geben wird.“ Warum verspricht ER das Leben auf der Erde als Belohnung und nicht das himmlische Leben? Die Erklärung ist in diesen Worten enthalten: „das Gott dir geben wird“, welche in der modernen Auslegung der zehn Gebote gestrichen wurde, dadurch wird der Sinn entstellt. Um diese Worte zu verstehen, müssen wir uns in die Lage und Denkweise der Hebräer zu jener Zeit zurückversetzen, in der sie gesprochen wurden. Sie wussten noch nichts über das zukünftige Leben. Ihre Sicht ging nicht über die Grenzen des physischen Lebens hinaus; sie wurden daher mehr berührt von Dingen, die sie sahen, als von jenen, die sie nicht sahen. Gott sprach deswegen zu ihnen in einer Sprache, die sie verstehen konnten und, wie man es bei Kindern tut, ER stellte ihnen in Aussicht, was sie befriedigen konnte. Sie befanden sich damals in der Wüste; das Land, das Gott ihnen geben wird, war das Gelobte Land, Ziel ihres Strebens: Sie wünschten sich nichts anderes als dies; Gott sagte ihnen, dass sie in jenem Land lange leben würden, das heißt, sie würden es lange Zeit besitzen, wenn sie SEINE Gebote befolgen.
Aber bei der Ankunft Jesu war ihre Denkweise schon entwickelter; die Zeit war gekommen, ihnen feinere Nahrung zu geben; Er weihte sie in das geistige Leben ein, indem Er ihnen sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt; dort und nicht auf Erden, werdet ihr eure Belohnung für eure guten Taten bekommen.“ Durch diese Worte verwandelte sich das irdische Gelobte Land in eine himmlische Heimat; daher, als Er sie zur Befolgung dieses Gebotes aufrief: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“, versprach Er ihnen nicht mehr die Erde, sondern den Himmel. (Kapitel II und III)