DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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12. Durch diese Worte: „Selig sind die Leidenden, denn sie werden getröstet“, weist Jesus zugleich auf die Kompensationen hin, die die Leidenden erwartet und auf die Gelassenheit, die das Leid segnet, als Anfang der Heilung.


Diese Worte können auch so gedeutet werden: Ihr sollt euch glücklich schätzen zu leiden, weil eure Leiden hier auf Erden eure Schuld von vergangenen Verstößen sind, und diese Leiden, hier geduldig ertragen, euch Jahrhunderte von Leiden in den zukünftigen Leben ersparen. Ihr sollt also glücklich sein, dass Gott eure Schuld vermindert hat, indem ER euch erlaubt, sie jetzt wieder gutzumachen, was euch die Ruhe in der Zukunft garantiert.


Der Mensch, der leidet, ist ähnlich dem Schuldner einer beträchtlichen Summe, dessen Gläubiger sagt: „Wenn du mir heute noch ein Hundertstel deiner Schuld bezahlst, werde ich dir den Rest erlassen und du wirst frei sein; falls nicht, werde ich dich verfolgen, bis du die letzte Rate bezahlt hast“. Würde der Schuldner sich nicht freuen, alle Arten von Entbehrungen zu erdulden, um sich zu befreien, indem er nur das Hundertstel seiner Schuld bezahlen muss? Statt sich über seinen Gläubiger zu beschweren, sollte er ihm nicht dankbar sein?


So ist der Sinn dieser Worte: „Selig sind die Leidenden, denn sie werden getröstet“. Sie sind glücklich, weil sie ihre Schulden bezahlen, und nach der Bezahlung werden sie frei sein. Wenn aber der Mensch bei der Bezahlung einer Teilschuld sich wiederum neu verschuldet, wird er nie seine Befreiung erreichen können. Jeder neue Verstoß erhöht also die Schuld, denn es gibt keinen Verstoß, egal welcher, der keine zwingende und unvermeidliche Strafe nach sich zieht; wenn nicht heute, wird es morgen sein; wenn nicht in dem gegenwärtigen Leben, wird es im nächsten sein. Unter diesen Verstößen muss man an erste Stelle den Mangel an Unterwerfung gegenüber Gottes Willen stellen, denn, wenn man über den Kummer murrt, wenn man ihn nicht mit Gelassenheit und als etwas annimmt, das man verdient hat, wenn man Gott als ungerecht bezeichnet, zieht man neue Schuld auf sich, welche den Nutzen verlieren lässt, den man aus dem Leiden hätte ziehen können. Man muss dann wieder von Neuem beginnen; es ist genauso, als ob ihr bei einem Gläubiger, der euch quält, einen Teil eurer Schulden begleicht, aber gleich wieder ein neues Darlehen von ihm in Anspruch nehmt.


Bei seinem Eintritt in die geistige Welt ist der Mensch wie ein Arbeiter, der am Zahltag erscheint. Zu einigen wird der Herr sagen: „Hier ist der Lohn eurer Tagesarbeit“; zu anderen, den Glücklichen der Erde, die im Müßiggang gelebt haben, deren Glück aus den Befriedigungen ihrer Eigenliebe und weltlichen Genüssen bestanden hat, wird er sagen: „Ihr werdet nichts bekommen, denn ihr habt bereits auf Erden euren Lohn erhalten. Geht und fangt eure Arbeit wieder von vorne an“.