KAPITEL XIV
Ehrt euren Vater und eure Mutter
• Kindesliebe • Wer ist meine Mutter und wer sind meine Schwestern und Brüder? • Die physische und die geistige Verwandtschaft • Unterweisungen der geistigen Welt: Die Undankbarkeit der Kinder und die Familienbande.
1. Ihr kennt die Gebote: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsche Zeugenaussagen machen; du sollst niemanden berauben; ehre deinen Vater und deine Mutter. (Markus, Kap. X, 19; Lukas, Kap. XVIII, 20; Matthäus, Kap. XIX, 18-19)
2. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange in dem Land leben wirst, das der Herr, dein Gott, dir geben wird. (Das zweite Buch Moses – Exodus, Kap.XX, 12)
Kindesliebe
3. Das Gebot: „Ehre Deinen Vater und Deine Mutter“ ist eine Folge des allgemeinen Gesetzes der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, da man seinen Nächsten nicht lieben kann, ohne seinen Vater und seine Mutter zu lieben. Das Wort ehre beinhaltet eine weitere Pflicht ihnen gegenüber: die der Kindesliebe. Gott wollte uns damit zeigen, dass man zur Liebe den Respekt, die Aufmerksamkeiten, den Gehorsam und die Willfährigkeit hinzufügen muss, was die Verpflichtung einschließt, den Eltern gegenüber alles zu erfüllen, auf eine noch strengere Art, alles was die Nächstenliebe hinsichtlich dem Nächsten vorschreibt. Diese Pflicht überträgt sich selbstverständlich auch auf die Menschen, die den Vater und die Mutter ersetzen und deren Verdienst umso größer ist, da ihre Aufopferung weniger verpflichtend ist. Gott bestraft stets auf eine strenge Art jegliche Verletzung dieses Gebots.
Den Vater und die Mutter zu ehren, bedeutet nicht nur, sie zu respektieren, sondern ihnen auch in der Not beizustehen; ihnen Ruhe in ihrem Alter zu ermöglichen, sie mit Fürsorge zu umgeben, wie sie es für uns in unserer Kindheit getan haben.
Insbesondere gegenüber mittellosen Eltern zeigt sich die wahre Kindesliebe. Erfüllen diejenigen dieses Gebot, die glauben, sich groß angestrengt zu haben, indem sie ihnen gerade nur so viel geben, damit sie nicht vor Hunger sterben, während sie selbst auf nichts verzichten? Indem sie ihre Eltern in die winzigste Kammer des Hauses verbannen, um sie nicht auf der Straße zu lassen, während sie für sich das Beste und das Bequemste vorbehalten?
Es ist noch ein Glück, wenn sie das nicht mit Widerwillen machen und die Eltern nicht dazu verpflichtet werden, die ihnen zum Leben verbleibende Zeit dadurch zu erkaufen, dass sie sich dafür die anstrengende Hausarbeit aufladen! Ist es denn gerecht, dass alte und schwache Eltern Diener ihrer jungen und starken Kinder sein sollen? Hat die Mutter mit ihnen um ihre Milch gefeilscht, als sie in der Wiege lagen? Als sie krank waren, hat die Mutter da ihre Nachtwachen oder ihre Schritte gezählt, um ihnen zu besorgen, was sie benötigten? Nein, es ist nicht nur das Notwendigste, was die Kinder ihren armen Eltern schulden, sondern, soweit sie es vermögen, die kleinen Freuden des Überflusses, die Liebenswürdigkeiten, die zarte Pflege, die nur die Zinsen für das sind, was sie selbst erhalten haben, die Bezahlung einer heiligen Schuld. Nur das ist die Kindesliebe, die von Gott anerkannt wird.
Wehe aber demjenigen, der vergisst, was er denen schuldet, die ihn in seiner Schwäche unterstützten, die ihm mit dem materiellen Leben auch das seelische Leben schenkten und sehr oft auf vieles verzichteten, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. Wehe demjenigen, der undankbar ist, denn er wird durch Undankbarkeit und Verlassen bestraft; er wird in allem, was ihm lieb und teuer ist, verletzt werden, manchmal schon im gegenwärtigen Leben, aber mit Sicherheit in einer anderen Existenz, wo er ertragen muss, was er andern angetan hat.
Gewiss gibt es manche Eltern, die ihre Pflicht vernachlässigen und nicht für ihre Kinder das sind, was sie sein sollten. Aber es obliegt Gott, sie zu bestrafen und nicht ihren Kindern. Es obliegt nicht den Kindern sie zu tadeln, denn sie haben es vielleicht verdient, dass es so ist. Wenn die Nächstenliebe ein Gebot vorschreibt, das Böse mit dem Guten zu erwidern, nachsichtig zu sein mit der Unvollkommenheit der andern, seinen Nächsten nicht zu verleumden, dessen Fehler zu vergessen und zu verzeihen, sogar die Feinde zu lieben, um wie viel größer ist dann die Verpflichtung der Kinder ihren Eltern gegenüber! Die Kinder müssen daher als Verhaltensregeln den Eltern gegenüber, die Gebote Jesu annehmen und sich daran erinnern, dass jegliches tadelnswerte Verhalten den Fremden gegenüber noch tadelnswerter den Eltern gegenüber ist; und dass das, was im ersten Fall vielleicht nur ein Fehler gewesen wäre, im zweiten Fall zum Verbrechen werden kann, weil in diesem Fall zu der mangelnden Nächstenliebe noch die Undankbarkeit hinzukommt.
4. Gott sagte: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange in dem Lande leben wirst, das der Herr, dein Gott, dir geben wird.“ Warum verspricht ER das Leben auf der Erde als Belohnung und nicht das himmlische Leben? Die Erklärung ist in diesen Worten enthalten: „das Gott dir geben wird“, welche in der modernen Auslegung der zehn Gebote gestrichen wurde, dadurch wird der Sinn entstellt. Um diese Worte zu verstehen, müssen wir uns in die Lage und Denkweise der Hebräer zu jener Zeit zurückversetzen, in der sie gesprochen wurden. Sie wussten noch nichts über das zukünftige Leben. Ihre Sicht ging nicht über die Grenzen des physischen Lebens hinaus; sie wurden daher mehr berührt von Dingen, die sie sahen, als von jenen, die sie nicht sahen. Gott sprach deswegen zu ihnen in einer Sprache, die sie verstehen konnten und, wie man es bei Kindern tut, ER stellte ihnen in Aussicht, was sie befriedigen konnte. Sie befanden sich damals in der Wüste; das Land, das Gott ihnen geben wird, war das Gelobte Land, Ziel ihres Strebens: Sie wünschten sich nichts anderes als dies; Gott sagte ihnen, dass sie in jenem Land lange leben würden, das heißt, sie würden es lange Zeit besitzen, wenn sie SEINE Gebote befolgen.
Aber bei der Ankunft Jesu war ihre Denkweise schon entwickelter; die Zeit war gekommen, ihnen feinere Nahrung zu geben; Er weihte sie in das geistige Leben ein, indem Er ihnen sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt; dort und nicht auf Erden, werdet ihr eure Belohnung für eure guten Taten bekommen.“ Durch diese Worte verwandelte sich das irdische Gelobte Land in eine himmlische Heimat; daher, als Er sie zur Befolgung dieses Gebotes aufrief: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“, versprach Er ihnen nicht mehr die Erde, sondern den Himmel. (Kapitel II und III)
Wer ist meine Mutter und wer sind meine Schwestern und Brüder?
5. Und als Er in das Haus gekommen war, hatte sich dort eine solch große Menge des Volkes versammelt, dass sie nicht einmal ihre Speisen zu sich nehmen konnten. – Die Seinen hatten dies erfahren, und sie kamen, um sich seiner zu bemächtigen, denn sie sagten: „Er ist von Sinnen.“
Inzwischen waren seine Mutter und seine Brüder gekommen, sie blieben aber draußen und ließen ihn rufen. Das Volk saß um Ihn herum und man sagte zu Ihm: Deine Mutter sowie Deine Brüder und Schwestern sind dort draußen und rufen Dich. Er aber antwortete ihnen: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder und Schwestern?“ Und indem Er alle, die um Ihn herum saßen, ansah, sagte Er: Seht, das sind meine Mutter und meine Brüder und Schwestern: – denn jeder, der den Willen Gottes befolgt, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter. (Markus, Kap. III, 20, 21 und 31-35; Matthäus, Kap. XII, 46-50)
6. Manche Worte erscheinen fremd aus dem Mund Jesu, weil sie seiner Güte und seinem unveränderlichen Wohlwollen allen gegenüber widersprechen. Die Ungläubigen haben es nicht unterlassen, sich daraus eine Waffe zu schmieden, indem sie sagten, dass Er sich selber widerspricht. Eine unwiderlegbare Tatsache ist, dass Seine Lehre als wesentliche Grundlage – als Eckstein – das Gesetz der Liebe und der Nächstenliebe hat; Er konnte daher nicht auf der einen Seite vernichten, was Er auf der anderen Seite festlegte; daraus kann man nur rigoros die Konsequenz ziehen, dass – wenn einige Maxime im Widerspruch zum Grundsatz stehen – dies besagt, dass die Worte, die Ihm zugeschrieben wurden, entweder falsch wiedergegeben oder falsch verstanden wurden, oder nicht von Ihm waren.
7. Man ist zu Recht erstaunt, Jesus in dieser Situation zu sehen, eine so große Gleichgültigkeit seinen Verwandten gegenüber zu zeigen und irgendwie seine Mutter zu verleugnen.
Was seine Geschwister anbelangt, so weiß man, dass sie Ihm keine Sympathie entgegenbrachten; als wenig entwickelte Geistwesen haben sie Seine Mission nicht verstanden; vor ihren Augen war Sein Verhalten seltsam und Seine Lehren haben sie nicht berührt, da keiner von ihnen zu Seinen Jüngern gehörte. Es scheint sogar, dass sie bis zu einem gewissen Grad die Vorurteile Seiner Feinde teilten. Sicher ist außerdem, dass sie Ihn mehr als einen Fremden und nicht wie einen Bruder empfingen, wenn Er sich Seiner Familie vorstellte, und der Heilige Johannes sagte im positiven Sinn, „dass sie nicht an Ihn glaubten“. (Kapitel VII, 5)
Bezüglich Seiner Mutter kann keiner ihre Zärtlichkeit zu ihrem Sohn bestreiten. Aber man muss auch zugeben, dass sie anscheinend keine richtige Vorstellung von Seiner Mission gehabt hat, weil man nie gesehen hat, dass sie Seinen Lehren folgte noch für Ihn Zeugnis ablegte, wie es Johannes der Täufer gemacht hat; bei ihr war die mütterliche Fürsorge vorherrschend. Im Hinblick auf Jesus anzunehmen, dass Er Seine Mutter verleugnet hätte, würde bedeuten, Seinen Charakter zu verkennen; ein solcher Gedanke hätte zu demjenigen keinen Zugang finden können, der gesagt hat: „Ehre deinen Vater und deine Mutter.“ Man muss daher eine andere Bedeutung für Seine Worte finden, die fast immer unter allegorischen Bildern verhüllt waren.
Jesus ließ keine Gelegenheit außer Acht, zu lehren. Er nutzte daher jenen Anlass, der Ihm die Ankunft Seiner Familie bot, um den Unterschied klarzumachen, der zwischen der physischen und geistigen Verwandtschaft besteht.
Die physische und die geistige Verwandtschaft
8. Die Blutsverwandtschaft ist nicht unbedingt die geistige Verwandtschaft. Der Körper geht aus dem Körper hervor, aber der Geist geht nicht aus dem Geist hervor, denn der Geist existierte schon vor der Entstehung des Körpers. Es ist nicht der Vater, der den Geist seines Kindes erzeugt, er gibt ihm nur die physische Hülle, aber er muss ihm bei seiner intellektuellen und moralischen Entwicklung helfen, um ihn Fortschritte machen zu lassen.
Die Geister, die sich in einer gleichen Familie inkarnieren, insbesondere als nahe Verwandte, sind meistens sympathisierende Geister, verbunden durch vorherige Beziehungen, die sich während des irdischen Lebens durch Zuneigung ausdrücken; aber es kann auch vorkommen, dass diese Geister sich untereinander vollkommen fremd sind, ebenso durch vorherige Antipathien getrennt, die sich in gleicher Weise durch ihre Gegnerschaft auf Erden ausdrücken, um ihnen als Prüfung zu dienen. Die wahren Familienbande sind also nicht jene der Blutsverwandtschaft, sondern die der Sympathie und der Übereinstimmung der Gedanken, die die Geistwesen vor, während und nach ihrer Inkarnation vereinigen. Daraus folgt, dass zwei Wesen, die von verschiedenen Eltern geboren wurden, innigere Brüder durch den Geist sein können, als wenn sie es durch das Blut wären. Sie können sich anziehen, sich suchen, sich gegenseitig gefallen; während zwei blutsverwandte Brüder sich abstoßen können, wie wir es täglich erleben; ein moralisches Problem, das nur der Spiritismus durch die Pluralität der Existenzen lösen konnte. (Kapitel IV, Nr. 13)
Es gibt also zwei Arten von Familien: Die Familie durch die geistigen Bande und die Familie durch die physischen Bande. Die erste dauerhaft, stärkt sich durch die Läuterung und verewigt sich in der geistigen Welt durch die verschiedenen Wanderungen der Seele. Die zweite, zerbrechlich wie die Materie, stirbt mit der Zeit aus und löst sich sehr oft moralisch auf, sogar schon im jetzigen Leben. Dies wollte Jesus zu verstehen geben, indem Er seinen Jüngern sagte: „Hier sind meine Mutter und meine Geschwister, das heißt, meine Familie durch die geistigen Bande, denn jeder, der den Willen meines Vaters erfüllt, der im Himmel ist, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“
Die Feindseligkeit Seiner Brüder und Schwestern wird in den Berichten des Apostels Markus ganz deutlich aufgezeigt, weil er doch sagt, dass sie die Absicht hatten, sich Seiner zu bemächtigen, unter dem Vorwand, dass Er von Sinnen wäre. Bei der Ankündigung ihrer Ankunft, und da Er ihre Gefühle Ihm gegenüber kannte, war es selbstverständlich, dass Er aus der geistigen Sicht bezüglich Seiner Jünger sagte: „Das sind meine wahren Brüder und Schwestern“. Obwohl Seine Mutter sie begleitete, verallgemeinerte Er die Lehre, was auf keinen Fall bedeutet, dass Er beabsichtigte zu sagen, dass Seine leibliche Mutter ihm als Geist nichts bedeuten würde und dass sie für ihn gleichgültig wäre. Sein Verhalten bei anderen Gelegenheiten hat ausreichend das Gegenteil bewiesen.
Unterweisungen der geistigen Welt
Die Undankbarkeit der Kinder und die Familienbande
9. Die Undankbarkeit ist eine der unmittelbaren Früchte des Egoismus; sie empört stets die ehrlichen Herzen; aber die Undankbarkeit der Kinder gegenüber ihren Eltern hat einen noch hässlicheren Charakter. Und besonders aus diesem Gesichtspunkt wollen wir sie in Betracht ziehen, um ihre Ursachen und Wirkungen zu analysieren. Hier wie bei allem wirft der Spiritismus ein Licht auf eins der größten Probleme des menschlichen Herzens.
Wenn eine Seele die Erde verlässt, nimmt sie die Leidenschaften und Tugenden, die ihrer Natur innewohnen, mit sich in die geistigen Sphären, in denen sie entweder fortschreitet oder solange stehen bleibt, bis sie das Bedürfnis nach dem Licht verspürt. Einige haben großen Hass und unbefriedigte Vergeltungswünsche mit sich genommen; aber einige davon, entwickelter als die anderen, ist es erlaubt, etwas von der Wahrheit zu erahnen. Sie erkennen die verhängnisvollen Auswirkungen ihrer Leidenschaften und fassen daher gute Entschlüsse; sie verstehen, dass es – um zu Gott zu gehen – nur ein Passwort gibt: die Nächstenliebe. Es gibt daher keine Nächstenliebe ohne die Schmähungen und Beleidigungen zu vergessen; keine Nächstenliebe mit Hass im Herzen und ohne Vergebung.
Also beobachten sie mit unglaublichen Anstrengungen jene, die sie auf der Erde gehasst haben; aber bei diesem Anblick erwacht ihre Feindschaft erneut. Sie empören sich bei dem Gedanken zu vergeben, noch mehr als bei dem Gedanken sich selber aufzugeben, jenem Gedanken vor allem, dass sie jene lieben sollen, die vielleicht ihr Vermögen, ihre Würde, ihre Familie zerstört haben. Das Herz dieser Unglücklichen ist allerdings erschüttert; sie zögern, schwanken durch ihre widersprüchlichen Gefühle. Falls die guten Beschlüsse überwiegen, bitten sie Gott, flehen sie die guten Geister an, ihnen in dem entscheidenden Moment der Prüfung Kraft zu geben.
Schließlich, nach einigen Jahren der Meditation und der Gebete, beseelt der Geist einen Körper, der sich in einer Familie entwickelt, die er gehasst hat, und bittet die Geister, die damit beauftragt sind, höhere Anweisungen zu übermitteln, auf dass er auf der Erde das Schicksal dieses im Entstehen befindlichen Körpers erfüllt. Wie wird dann sein Verhalten in dieser Familie sein? Es hängt mehr oder weniger vom Durchhalten seiner guten Entschlüsse ab. Der ständige Kontakt mit Menschen, die er gehasst hat, ist eine grausame Prüfung, der er manchmal unterliegt, wenn sein Wille nicht stark genug ist. Je nachdem also, wie der gute oder schlechte Entschluss überwiegt, wird er Freund oder Feind derjenigen sein, in deren Mitte er zu leben gerufen wurde. Daher erklären sich solcher Hass, solche instinktive Zurückweisung, die man bei manchen Kindern bemerkt und die keine vorherige Handlung zu rechtfertigen scheinen. In dieser Existenz hat tatsächlich nichts diese Antipathie hervorrufen können. Um diese Ursache zu verstehen, muss man seinen Blick auf vergangenes Leben werfen.
Spiritisten! Versteht jetzt die große Rolle der Menschheit; versteht, dass, wenn ihr einen Körper zeugt, die Seele, die in ihm inkarniert, aus der geistigen Sphäre kommt, um fortzuschreiten. Erkennt eure Pflichten und setzt eure ganze Liebe daran, diese Seele näher zu Gott zu bringen: Dies ist der euch anvertraute Auftrag, und ihr werdet eure Belohnung empfangen, wenn ihr ihn treu erfüllt. Eure Fürsorge, die Erziehung, die ihr ihm gebt, wird zu seiner Verbesserung und seinem zukünftigen Wohlergehen beitragen. Denkt daran, dass Gott jeden Vater, jede Mutter fragen wird: „Was habt ihr aus dem Kind gemacht, das ich euch anvertraut habe?“ Wenn es durch eure Schuld zurückgeblieben ist, werdet ihr es zu eurer Bestrafung unter den leidenden Geistern sehen, denn es hing von euch ab, dass es stattdessen glücklich sein könnte.
Ihr selber, dann von Schuldgefühlen geplagt, werdet dann darum bitten, eure Fehler wieder gutmachen zu dürfen; ihr werdet für euch und für es um eine erneute Inkarnation bitten, bei der ihr es mit besserer Fürsorge umgeben werdet, und bei der es euch voller Dankbarkeit dafür mit seiner Liebe umgibt.
Weist daher nicht das Kind in der Wiege ab, das seine Mutter zurückstößt noch jenes, das euch Undankbarkeit erweist; es ist nicht der Zufall, der es so gemacht hat und es euch gegeben hat. Eine unvollkommene Ahnung der Vergangenheit enthüllt sich und daraus könnt ihr folgern, dass der eine oder andere schon viel gehasst hat oder beleidigt wurde; dass der eine oder andere gekommen ist, um zu vergeben oder zu büßen. Mütter! Umarmt daher das Kind, das euch Kummer bereitet und sagt euch selbst: „Einer von uns beiden war schuldig.“ Verdient euch die göttlichen Freuden, die Gott der Mutterschaft beifügt, indem ihr diesem Kind lehrt, dass es auf der Erde ist, um sich zu verbessern, zu lieben und zu segnen. Aber leider, wie viele unter euch, anstatt durch die Erziehung die schlechten, von vorherigen Existenzen stammenden, angeborenen Neigungen zu beseitigen, erhaltet und entwickelt ihr gerade diese Neigungen weiter durch eine schuldhafte Schwäche und Nachlässigkeit, und später wird euer Herz durch die Undankbarkeit eurer Kinder verletzt, was für euch schon in diesem Leben der Beginn eurer Buße sein wird.
Die Arbeit ist nicht so schwer wie sie euch scheint. Sie erfordert nicht das Wissen der Welt. Sowohl der Unwissende wie der Gelehrte kann sie erfüllen, und der Spiritismus erleichtert sie zu tun, indem er die Ursache der Unvollkommenheit des menschlichen Herzens erklärt.
Von der Wiege an zeigt das Kind die guten und schlechten Neigungen, die es von seiner vorherigen Existenz mitbringt. Die Eltern sollen sich befleißigen, sie zu beobachten. Alle Übel entstammen dem Egoismus und dem Hochmut. Beobachtet also die kleinsten Anzeichen, die den Keim dieser Laster erkennen lassen, und bemüht euch sie zu bekämpfen, ohne zu warten, bis sie tiefere Wurzeln geschlagen haben. Macht es wie der gute Gärtner, der die schlechten Knospen entfernt, sobald er sie am Baum entdeckt. Wenn ihr den Egoismus und Hochmut sich entwickeln lasst, wundert euch nicht, wenn ihr später mit Undankbarkeit bezahlt werdet. Wenn die Eltern alles getan haben, was sie für den moralischen Fortschritt ihrer Kinder tun müssen, ohne Erfolg zu haben, müssen sie sich nicht selbst beschuldigen und ihre Gewissen können ruhig bleiben. Was den verständlichen Kummer angeht, den ihr wegen des Misserfolgs eurer Bemühungen empfindet, reserviert euch Gott einen großen, unermesslichen Trost durch die Sicherheit, dass dies nur eine Verzögerung ist, und dass euch in einer anderen Existenz ermöglicht wird, die begonnene Arbeit zu beenden und dass euch eines Tages der undankbare Sohn mit seiner Liebe belohnen wird.
Gott gibt keine Prüfung, die über die Kraft desjenigen hinausgeht, der um sie bittet; ER erlaubt nur die, die erfüllt werden können. Wenn dies nicht gelingt, geschieht es nicht aus Mangel an Möglichkeiten, sondern an Willen. Denn wie viele Menschen gibt es, die anstatt den schlechten Trieben zu widerstehen, Gefallen an ihnen finden: auf diese warten Weinen und Zähneknirschen in ihren nächsten Inkarnationen. Bewundert aber die Güte Gottes, der der Reue nie die Tür verschließt. Der Tag wird kommen, an dem der Schuldige es müde sein wird zu leiden, an dem sein Hochmut endlich besiegt sein wird, und dann wird Gott SEINE väterlichen Arme für den verlorenen Sohn öffnen, der sich zu SEINEN Füßen wirft. Große Prüfungen – versteht mich richtig – sind fast immer Anzeichen vom Ende des Leidens und von einem Fortschritt des Geistes, sofern sie gemäß dem Willen Gottes angenommen werden. Dies ist ein bedeutender Moment, und gerade bei diesem ist es wichtig, dass man sich nicht murrend dagegen auflehnt, wenn man die Früchte der Prüfung nicht verlieren und wieder von vorne anfangen möchte. Anstatt euch zu beklagen, bedankt euch bei Gott, der euch die Gelegenheit zu siegen gibt, um euch den Preis des Sieges zu geben. Wenn ihr dann aus dem Wirbel der irdischen Welt herausgegangen seid und in die geistige Welt eintretet, werdet ihr dort wie ein Soldat bejubelt, der aus der Mitte eines Kampfes siegreich hervorging.
Die schmerzlichsten aller Prüfungen sind die, die das Herz betrüben. Einer, der mit Mut das Elend und die materiellen Entbehrungen erträgt, zerbricht unter dem Gewicht des häuslichen Kummers, verwundet durch die Undankbarkeit der Seinen. Oh! Was ist dies für eine schmerzliche Beklemmung. Was kann aber unter diesen Umständen besser den moralischen Mut wieder aufrichten, als das Wissen über die Ursachen des Bösen und die Sicherheit, dass es bei seelischen Schmerzen – auch wenn sie lange Zeit bestehen – keine ewigen Verzweiflungen gibt, weil es nicht Gottes Wille sein kann, dass SEINE Geschöpfe unaufhörlich leiden? Was gibt es Trostvolleres, Ermutigenderes, als den Gedanken, dass es von einem selber, von seinen eigenen Bemühungen abhängt, das Leid zu verkürzen, und zwar durch die Vernichtung der Ursachen des Bösen in sich selber? Aber dazu darf der Mensch seinen Blick nicht allein auf die Erde fixieren und nicht nur eine Existenz sehen. Es ist nötig sich zu erheben und in der Unendlichkeit der Vergangenheit sowie der Zukunft zu schweben. Die große Gerechtigkeit Gottes wird sich euch dann zeigen, und ihr wartet geduldig, weil euch nun klar wird, was euch auf der Erde noch als Ungeheuerlichkeit erschien. Die Wunden, die ihr dort bekommen habt, werden euch nur noch als Kratzer erscheinen. Durch diesen auf die Gesamtheit geworfenen Blick, zeigen sich die Familienbande in ihrem wahren Sinn: Es sind nicht mehr die vergänglichen Bande der Materie, die ihre Mitglieder binden, sondern die dauerhaften Bande der Geister, die sich verewigen und durch die Läuterungsprozesse festigen, anstatt durch die Reinkarnation zu zerbrechen.
Die Geister, deren Ähnlichkeit in ihrem Geschmack, in der Übereinstimmung des moralischen Fortschritts und in der Zuneigung sie dazu veranlassen, sich zu vereinigen, bilden Familien. Diese gleichen Geister suchen sich auf ihren irdischen Wanderschaften, um sich zu gruppieren, wie sie es in den geistigen Sphären auch tun; von daher entstehen die geeinten und homogenen Familien. Und wenn sie auf ihrer Wanderschaft vorübergehend getrennt sind, treffen sie sich später wieder, glücklich über ihre neuen Fortschritte. Da sie aber nicht nur für sich selbst arbeiten sollen, erlaubt Gott, dass weniger entwickelte Geister unter ihnen reinkarnieren, damit diese, im Interesse ihres eigenen Fortschritts, Ratschläge und gute Beispiele erhalten können. Manchmal verursachen sie Unruhe, aber gerade dort ist die Prüfung und darin besteht die Aufgabe. Empfangt sie also als Brüder und Schwestern. Helft ihnen! Später, in der geistigen Welt, wird sich die Familie darüber freuen, die Schiffbrüchigen gerettet zu haben, die ihrerseits auch andere retten können. (Sankt Augustin, Paris, 1862)