DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

Zurück zum Menü
Die Kraft des Glaubens

1. Als Er zur Volksmenge kam, näherte sich Ihm ein Mann, der sich vor Ihm auf die Knie warf, und sagte: „Herr, erbarme dich meines Sohnes, denn er ist Epileptiker und leidet sehr darunter; er fällt oft ins Feuer und oft ins Wasser. Ich habe ihn zu Deinen Jüngern gebracht, aber sie konnten ihn nicht heilen.“ – Und Jesus antwortete, indem Er sagte: Oh! Du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht, wie lang muss ich noch bei euch sein? Wie lang muss ich euch noch erdulden? Bringt mir dieses Kind her. Und als Jesus dem Dämon drohte, verließ dieser den kleinen Jungen und dieser war im selben Augenblick geheilt.


Daraufhin traten die Jünger etwas abseits zu Jesus und fragten Ihn: „Warum konnten wir diesen Dämon nicht austreiben?“ – Jesus antwortete ihnen: „Wegen eurer Ungläubigkeit. Denn wahrlich ich sage euch, wenn ihr einen Glauben hättet, nur so groß wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Berg sagen: ‚Heb dich hinweg, dorthin, und er würde sich hinweg heben, und nichts wäre euch unmöglich‘.“ (Matthäus, Kap. XVII, 14-20)


2. Im eigentlichen Sinn ist es wahr, dass das Vertrauen in die eigenen Kräfte einen befähigt, materielle Dinge zu bewirken, die man nicht tun könnte, wenn man an sich zweifelte; aber hier darf man diese Worte nur im moralischen Sinn verstehen. Die Berge, die der Glaube versetzt, sind die Schwierigkeiten, kurz gesagt, die Böswilligkeit, die Widerstände, die man bei den Menschen antrifft, selbst wenn es um das Beste geht. Die Vorurteile der Routine, die materiellen Interessen, der Egoismus, die Blindheit des Fanatismus, die stolzen Leidenschaften sind ebenso Berge, die den Weg demjenigen versperren, der für den Fortschritt der Menschheit arbeitet. Der starke Glaube gibt die Beharrlichkeit, die Energie und die Mittel, die die Hindernisse zu überwinden helfen, sowohl bei kleinen, als auch bei großen Dingen. Der wankende Glaube ist es, der die Ungewissheit, das Zögern verursacht, wovon jene profitieren, die man bekämpfen will. Dieser wankende Glaube sucht schon deshalb nicht die Mittel des Sieges, weil er nicht daran glaubt, siegen zu können.


3. In einer anderen Bedeutung versteht man unter „Glaube“ das Vertrauen, das man in die Erfüllung einer Angelegenheit hat, die Gewissheit ein Ziel zu erreichen. Der Glaube gibt eine Art Erleuchtung, die einen in Gedanken das Ziel, nach dem man strebt, und ebenso die Mittel, um dieses zu erreichen, auf solche Weise erkennen lässt, dass derjenige, der ihn besitzt, mit sicherem Schritt voranschreitet. In dem einen, wie dem andern Fall kann er große Dinge verwirklichen.


Der aufrichtige und wahre Glaube ist immer ruhig. Er verschafft die Geduld, die warten kann, weil er sich auf die Intelligenz und das Verständnis der Dinge stützt, und weil er die Sicherheit hat, sein Ziel zu erreichen. Der zweifelnde Glaube spürt seine eigene Schwäche; und wenn er durch Eigeninteresse stimuliert wird, so wird er wütend und glaubt, die Stärke durch Gewalt ersetzen zu können. Bei einem Streit die Ruhe zu bewahren, ist immer ein Zeichen der Stärke und des Vertrauens; während die Gewalttätigkeit im Gegenteil ein Beweis für Schwäche und Zweifel an sich selbst ist.


4. Man muss sich davor hüten, Glaube mit Überheblichkeit zu verwechseln. Der wahre Glaube verbindet sich mit der Demut. Derjenige, der ihn besitzt, setzt sein Vertrauen mehr auf Gott als auf sich selbst, weil er weiß, dass er ein einfaches Instrument von Gottes Willen ist und ohne IHN nichts kann; deshalb kommen die guten Geister ihm zu Hilfe. Die Überheblichkeit ist weniger Glaube als Hochmut, und Hochmut wird früher oder später immer durch Enttäuschung und die Misserfolge bestraft, die ihm zugefügt werden.


5. Die Kraft des Glaubens erfährt eine direkte und besondere Anwendung bei der magnetischen Tätigkeit. Bei ihr wirkt der Mensch auf das Fluidum, eine universelle Substanz; er verändert dessen Eigenschaften und gibt ihm sozusagen einen unwiderstehlichen Impuls. Deshalb kann derjenige, der eine große normale fluidale Kraft mit einem brennenden Glauben verbindet, allein durch seinen auf das Gute gelenkten Willen, diese seltsamen Phänomene der Heilung und auch anderer Art herbeiführen, die früher als Wunder angesehen wurden, die aber nichts anderes als die Folgen eines Naturgesetzes sind. Dies ist der Grund, warum Jesus zu seinen Aposteln sagte: „Wenn ihr nicht geheilt habt, dann deshalb, weil ihr keinen Glauben hattet“.