KAPITEL XXII
Trennt nicht, was Gott zusammengefügt hat
• Die Unlösbarkeit der Ehe • Die Scheidung
Die Unlösbarkeit der Ehe
1. Da traten auch die Pharisäer zu Ihm, um Ihn zu versuchen, indem sie sagten: „Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus irgendeinem Grund wegzuschicken?“ – Er antwortete ihnen: „Habt ihr nicht gelesen, dass derjenige, der den Menschen erschaffen hat, sie von Anfang an als Mann und Weib geschaffen hatte und dass gesagt wurde: ‚Deshalb verlässt der Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben, und die zwei werden nur ein Fleisch sein‘! – So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch sein. – Der Mensch möge also nicht trennen, was Gott zusammengefügt hat.“
Sie entgegneten Ihm: „Warum hat dann Moses geboten, dass der Mann seiner Frau einen Scheidebrief geben soll und sich von ihr scheiden?“ – Jesus antwortete: „Wegen der Härte eures Herzens hat Moses euch erlaubt, euch von euren Frauen zu scheiden, aber das ist nicht von Anfang an so gewesen.“ – Ich sage euch daher: „Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruch, und heiratet eine andere, begeht Ehebruch; und wer eine Frau heiratet, die von einem andern geschieden wurde, begeht ebenfalls Ehebruch.“ (Matthäus, Kap. XIX, 3-9)
2. Unveränderlich ist nur das, was von Gott kommt. Alles, was ein Werk des Menschen ist, unterliegt der Veränderung. Die Naturgesetze sind immer die gleichen, in allen Zeiten und in allen Ländern. Die von Menschen gemachten Gesetze ändern sich nach Zeit, Ort und der Entwicklung der menschlichen Intelligenz. Was in der Ehe von göttlicher Ordnung ist, ist die Vereinigung der Geschlechter, um die Erneuerung des Menschen, der stirbt, herbeizuführen. Aber die Bedingungen, die diese Ehe regeln, sind derart menschlich, dass es auf der ganzen Welt, selbst im Christentum, nicht zwei Länder gibt, in denen sie absolut gleich sind, und nicht ein einziges, in dem sie sich nicht im Laufe der Zeit verändert haben. Daraus ergibt sich, dass entsprechend den bürgerlichen Rechten das, was in einem Land zu einer Zeit legal ist, in einem anderen Land und zu anderer Zeit ehebrecherisch ist; dies, weil die jeweiligen bürgerlichen Rechte den Zweck haben, die Interessen der Familien zu regeln, und diese Interessen variieren nach den Sitten und örtlichen Bedürfnissen. So ist zum Beispiel in bestimmten Ländern die kirchliche Eheschließung die einzige legale, in einigen Ländern ist darüber hinaus die standesamtliche Trauung erforderlich, und in anderen Ländern genügt schließlich die standesamtliche Trauung.
3. Es gibt aber in der Geschlechtsverbindung neben dem materiellen göttlichen Gesetz, das für alle Lebewesen allgemein gültig ist, noch ein anderes göttliches Gesetz, das wie alle Gottesgesetze unveränderlich und ausschließlich moralisch ist, nämlich das Gesetz der Liebe. Gott wollte, dass die Menschen sich nicht nur durch die Verbindung des Fleisches vereinigten, sondern auch durch die Verbindung der Seele, damit sich die gegenseitige Zuwendung der Eheleute auf die Kinder überträgt, damit sie nicht nur von einem, sondern von zwei geliebt werden, die für sie sorgen und sich um ihre Entwicklung kümmern. Wird das Gesetz der Liebe bei den allgemeinen Ehe-bedingungen berücksichtigt? Keineswegs! Gefragt wird nicht die Zuneigung zwischen zwei Menschen, deren gegenseitige Gefühle einander anziehen, denn meistens ist die gegenseitige Zuneigung nicht von langer Dauer. Was gesucht wird, ist nicht die Befriedigung des Herzens, sondern die des Stolzes, der Eitelkeit und der Habsucht, kurz gesagt, alle materiellen Interessen. Wenn alles nach diesen Interessen zum Besten steht, sagt man, dass diese Eheschließung angemessen ist. Und wenn die Geldbeutel gut ausgestattet sind, sagt man, dass die Eheleute dies ebenfalls sind und sehr glücklich sein sollten.
Jedoch, weder das Zivilgesetz noch die eingegangenen Verpflichtungen können das Gesetz der Liebe ersetzen, wenn dieses bei der Eheschließung nicht vorherrschend ist. Daraus resultiert sehr oft, was unter Zwang verbunden wurde, von selbst auseinander gehen wird; dass man einen Meineid leistet, wenn der vor dem Altar abgelegte Eid wie eine banale Formel ausgesprochen wird. Diese unglücklichen Verbindungen enden oft kriminell; doppeltes Unglück, das vermieden werden könnte, wenn unter den vereinbarten Ehebedingungen nicht die eine fehlen würde, die allein vor Gottes Augen Anerkennung findet: das Gesetz der Liebe. Als Gott sagte: „Ihr werdet ein einziges Fleisch sein“, und als Jesus ermahnte: „Trennt nicht, was Gott zusammen-gefügt hat“, so muss man die Ehe gemäß dem unveränderlichen Gesetz Gottes verstehen und nicht nach dem veränderlichen Gesetz der Menschen.
4. Ist das Zivilgesetz also überflüssig und muss man zu der naturgemäßen Vereinigung zurückkehren? Nein, natürlich nicht. Das Zivilgesetz hat den Zweck, die sozialen Beziehungen und die Familieninteressen je nach den Erfordernissen der Zivilisation zu regeln; es ist daher nützlich und notwendig, jedoch veränderlich. Es muss vorausschauend sein, denn der zivilisierte Mensch kann nicht wie ein Wilder leben. Aber nichts, absolut nichts spricht dagegen, dass das menschliche Gesetz die Folge des Göttlichen sei. Die Hindernisse zur Erfüllung der Göttlichen Gesetze kommen von den Vorurteilen und nicht vom Zivilgesetz. Obwohl diese Vorurteile noch bestehen, haben sie unter den aufgeklärten Völkern bereits schon viel von ihrem Einfluss verloren. Sie verschwinden allmählich mit der moralischen Entwicklung, die schließlich die Augen der Menschen öffnet hinsichtlich des Schlechten, der Fehler und auch der Verbrechen aus Verbindungen, die nur aus materiellen Interessen geschlossen wurden. Eines Tages wird man sich fragen, ob es menschlicher, barmherziger oder moralischer ist, zwei Menschen aneinander gefesselt zu lassen, die nicht zusammen leben können, oder ihnen die Freiheit zurückzugeben; ob die Aussicht auf eine unlösbare Fessel die Zahl der ungesetzlichen Verbindungen nicht noch erhöht.
Die Scheidung
5. Die Scheidung ist ein menschliches Gesetz, mit dem Zweck, das zu scheiden, was tatsächlich schon geschieden ist. Die Scheidung ist kein Verstoß gegen das Gesetz Gottes, denn sie korrigiert lediglich nur das, was von den Menschen gemacht wurde, und sie ist nur dort anzuwenden, wo das göttliche Gesetz nicht in Betracht gezogen wurde. Wenn die Scheidung gegen das Gesetz Gottes wäre, dann müsste die Kirche sogar jene Kirchenführer verurteilen, die kraft ihrer eigenen Autorität und im Namen der Religion schon mehr als einmal die Scheidung ausgesprochen haben; eine doppelte Pflicht-verletzung sogar, weil dies lediglich im Hinblick auf weltliche Interessen geschah und nicht, um das Gesetz der Liebe zu erfüllen.
Auch Jesus segnete nicht die absolute Unlösbarkeit der Ehe. Sagte Er nicht: „Wegen der Härte eurer Herzen, hat es euch Moses erlaubt, euch von euren Frauen zu scheiden“? Dies bedeutet, dass seit der Zeit Moses Scheidungen notwendig werden konnten, da die gegenseitige Zuwendung nicht der einzig entscheidende Zweck der Ehe war. Er fügte jedoch hinzu: „Am Anfang war das nicht so“, d.h. in frühesten Zeiten der Menschheit, als die Menschen noch nicht durch Egoismus und Hochmut verdorben waren und nach dem Gesetz Gottes lebten, die Ehen aus Sympathie und nicht aus Eitelkeit oder Ehrgeiz geschlossen wurden, gab es keinen Anlass zu einer Verstoßung.
Er geht noch weiter: Er nennt ein Beispiel, wo eine Verstoßung stattfinden kann, nämlich bei Ehebruch. Nun, es wird keinen Ehebruch geben, wo eine gegenseitige und aufrichtige Zuneigung herrscht. In der Tat verbietet Er dem Mann, eine Frau zu nehmen, die verstoßen wurde; hierbei muss man jedoch die Gebräuche und Sitten der Menschen der damaligen Zeit berücksichtigen. Die mosaischen Gesetze schrieben in einem solchen Fall die Steinigung vor. Da Er diesen barbarischen Brauch abschaffen wollte, brauchte Er eine andere Strafe; Er findet sie im Verbot, eine zweite Ehe einzugehen. In gewisser Weise wurde dadurch ein bürgerliches Gesetz durch ein anderes ersetzt, welches sich aber, wie alle Gesetze dieser Art, im Laufe der Zeit noch bewähren musste.