DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

Zurück zum Menü
Das Mitgefühl

17. Das Mitgefühl ist die Tugend, die euch in die nächste Nähe der Engel führt. Es ist die Schwester der Nächstenliebe, die euch zu Gott führt. Ja! Lasst eure Herzen erweichen beim Anblick der Armut und der Leiden eurer Nächsten. Eure Tränen sind Balsam, den ihr über ihre Wunden gießt, und wenn es euch gelingt, durch eine sanfte Zuneigung ihnen die Hoffnung und die Geduld wiederzugeben, welch eine Freude werdet ihr dabei empfinden! Diese Freude trägt allerdings eine gewisse Bitternis in sich, weil sie neben dem Unglück entsteht. Wenn sie aber nicht den herben Beigeschmack der gesellschaftlichen Genüsse hat, bringt sie auch nicht die herzzerreißenden Enttäuschungen der Leere, die diese hinterlassen. Sie bringt eine durchdringende Sanftheit, die die Seele erfreut.


Das Mitgefühl, ein tief empfundenes Mitgefühl, das ist die Liebe; Liebe ist Aufopferung; Aufopferung ist Selbstverleugnung; und diese Selbstverleugnung, diese Opferbereitschaft für die Notleidenden ist die ganz besondere Tugend, die der göttliche Messias Sein ganzes Leben lang praktiziert hat und die Er in Seiner heiligen und so erhabenen Lehre gelehrt hat. Wenn dieser Lehre ihre ursprüngliche Reinheit zurückgegeben wird; wenn sie von allen Völkern angenommen wird, wird sie der Erde Glück bringen, indem sie endlich die Eintracht, den Frieden und die Liebe herrschen lassen wird.


Das reinste Gefühl, das euch fortschreiten lässt, ist das Mitgefühl, das eure Seele zur Demut, zur Wohltätigkeit und zur Nächstenliebe bewegt und mit dem ihr euren Egoismus und Hochmut überwindet! Dieses Mitgefühl, das euch wegen der Leiden eurer Brüder und Schwestern bis in euer Innerstes erschüttert, und das euch dazu bringt, ihnen eine helfende Hand zu reichen und euch in Tränen der Rührung ausbrechen lässt. Unterdrückt in euren Herzen nie dieses himmlische Gefühl, macht es auch nicht wie diese verstockten Egoisten, die sich von den Leidenden entfernen, weil der Anblick ihres Elends sie für einen Augenblick in ihrer glücklichen Existenz stören würde. Hütet euch davor, gleichgültig zu sein, wenn ihr euch nützlich machen könnt. Die Ruhe, die man auf Kosten einer schuldhaften Gleichgültigkeit erreicht, ist die Ruhe des Toten Meeres, das in der Tiefe seines Wassers den stickigen Schlamm und die Korruption verbirgt.


Das Mitgefühl ist jedoch weit davon entfernt, Störungen und Überdruss zu verursachen, wovor die Egoisten erschrecken! Zweifelsohne empfindet die Seele bei der Berührung des Elends anderer, da sie sich ihrer selbst erinnert, einen natürlichen und tiefen Schock, der euer ganzes Wesen ergreift und euch schmerzlich erschüttert. Aber die Belohnung ist groß, wenn es euch gelingt, einem unglücklichen Bruder den Mut und die Hoffnung zurückzugeben, der von einem freundlichen Händedruck innerlich bewegt wird, und dessen Blick – feucht vor Rührung und Dankbarkeit – sich leise zu euch wendet, bevor er ihn zum Himmel richtet, um sich dafür zu bedanken, dass ihm ein Tröster und Unterstützung geschickt wurde. Das Mitgefühl ist der schwermütige, aber auch himmlische Vorläufer der Nächstenliebe, die erste unter den Tugenden, deren Schwester sie ist und deren Wohltaten sie vorbereitet und adelt. (Michel. Bordeaux, 1862)