DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Bezahlte Gebete

3. Dann richtete Er folgende Worte an seine Jünger und zwar so, dass das ganze Volk Ihn hören konnte: „Hütet euch vor den Schriftgelehrten, die so gern in langen Gewändern einhergehen und sich gern in der Öffentlichkeit grüßen lassen, die gerne die ersten Sitze in den Synagogen und die Ehrenplätze bei den Festmählern einnehmen; die, unter dem Vorwand der langen Gebete die Häuser der Witwen an verschlingen. Sie werden ein umso strengeres Strafurteil dafür bekommen.“ (Lukas, Kap. XX, 45-47; Markus, Kap. XII, 38-40; Matthäus, Kap. XXIII, 14)


4. Jesus sagte ebenfalls: Lasst nicht zu, dass man euch für eure Gebete bezahlt; handelt nicht wie die Schriftgelehrten, die, unter dem Vorwand der langen Gebete die Häuser der Witwen verschlingen, d.h. deren Vermögen an sich reißen. Das Gebet ist eine Handlung der Nächstenliebe, eine Regung des Herzens. Sich bezahlen zu lassen für ein Gebet, das man für einen andern an Gott richtet, bedeutet, sich in einen bezahlten Vermittler zu verwandeln. Das Gebet ist dann nur eine Formel, dessen Länge von der bezahlten Summe abhängt. Es gilt nur eins von beiden: Entweder misst Gott SEINE Gnaden nach der Anzahl der Worte oder er tut es nicht; und wenn die Worte in großer Anzahl erforderlich sind, warum dann wenige oder fast keine Worte für jemanden sprechen, der nicht dafür bezahlen kann? Das ist ein Mangel an Nächstenliebe. Wenn nur ein Wort genügt, so ist es unnütz, im Übermaß zu sprechen. Warum dann Geld dafür verlangen? Das ist eine Pflichtverletzung.


Gott verkauft nicht die von IHM gewährten Wohltaten. Warum verlangt dann derjenige, der nicht einmal sein Verteiler ist und der für das Gelingen nicht garantieren kann, Bezahlung für eine Bitte, die möglicherweise nicht erfüllt wird? Gott kann nicht eine Tat der Gnade, der Güte oder der Gerechtigkeit, um die man IHN in SEINER Barmherzigkeit ersucht, von einem Geldbetrag abhängig machen; andererseits folgt daraus, dass, wenn der Geldbetrag nicht bezahlt würde oder nicht ausreichend wäre, die Gerechtigkeit, die Güte und das Erbarmen Gottes nicht erlangt werden könnte. Die Vernunft, der gesunde Menschenverstand und die Logik sagen uns: es ist unmöglich, dass Gott – die absolute Vollkommenheit – unvollkommenen Menschen das Recht gibt, einen Preis für SEINE Gerechtigkeit festzusetzen. Die Gerechtigkeit Gottes ist wie die Sonne: Sie ist für alle da, für die Armen wie für die Reichen. Wenn wir es für unmoralisch halten, mit den Gnaden eines Herrschers auf der Erde Geschäfte zu machen, ist es dann erlaubt, die Gnade des Herrschers des Universums zu verkaufen?


Die bezahlten Gebete haben noch einen anderen Nachteil; derjenige, der sie kauft, glaubt meistens, dass er selber nicht zu beten braucht, denn er fühlt sich von dieser Pflicht befreit, weil er sein Geld gegeben hat. Man weiß, dass die Geister sich von der Inbrunst des Gedankens derer, die sich für sie interessieren, gerührt fühlen. Wie hoch kann die Inbrunst dessen sein, der einen Dritten bittet, für ihn zu beten, indem er ihn dafür bezahlt? Wie groß ist die Inbrunst dieses Dritten, der einen andern und dieser noch einen andern damit beauftragt und so weiter? Bedeutet es nicht, die Wirksamkeit eines Gebetes auf den Wert einer gültigen Währung herabzusetzen?